Fichenskandal und Kulturboykott
Wenige Tage nach dieser Abstimmung fiel in Berlin die Mauer, der kalte Krieg ging zu Ende. »Wir haben recht gehabt und wir haben es erlebt, daß wir recht hatten.« Frisch erhoffte sich nun auch für die Schweiz eine größere politische Toleranz. Doch schon im Frühjahr 1990 schickte er mir die Kopie eines Gutachtens vom »Stab der Gruppe Generalstabsdienste«, worin Strategien diskutiert wurden, den populären Schriftsteller in der Öffentlichkeit zu bekämpfen. Frischs Kommentar: »Das Gutachten kommt ins Archiv. Die Nachwelt soll auch was zum Lachen haben.« Zur selben Zeit zeigten sich die ersten Finanzengpässe im Budget des Schauspielhauses. Auf der Suche nach Sponsorengeldern gab es neue Erfahrungen mit der Kunstfreiheit. Niemand war gegen diese Freiheit, aber da und dort pochte man auf die Freiheit, gewisse sogenannte künstlerische Unternehmungen nicht unterstützen zu müssen … Jonas und seine Folgen.
Im Laufe des Jahres 1990 wurde auch das Ausmaß des sogenannten »Fichenskandals« offenkundig. An die 900 000 Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz waren in der Nachkriegszeit vom Verfassungsschutz wider Recht und Gesetz bespitzelt und auf Karteikarten – Fichen – erfaßt worden. Tausende von Schweizerinnen und Schweizern hatten Denunziantendienste geleistet. Der Schock und die Empörung erschütterte das politische Gefüge des Landes. Der Umfang des Denunziantensystems und das Fehlen jedes Unrechtsbewußtseins empörten Frisch: »Auf diesem Sumpfboden wächst jede Gemeinheit.« Zusammen mit zahlreichen anderen Kulturschaffenden unterzeichnete er den »Kulturboykott«, das heißt er verpflichtete sich, nicht an der 700-Jahr-Feier der Schweiz mitzuwirken, die für 1991 vorbereitet wurde. »Mit der Jubelfeier dieser Leute habe ich nichts zu tun. Ihre Schweiz ist nicht meine.« Er unterstützte die Einberufung eines gesamtschweizerischen Kultursymposiums, welches unter dem Titel Welche Schweiz braucht die Kultur? am 3. und 4. November 1990 im Schauspielhaus und in der Roten Fabrik Zürich stattfand. Nur sein schlechter Gesundheitszustand verhinderte eine persönliche Teilnahme.
Frisch war sich über den baldigen tödlichen Ausgang seiner Erkrankung im klaren. Er setzte alle Hebel in Bewegung, um Einsicht in seine Fiche zu bekommen. »Ich habe meinen Anwalt beauftragt, daß meine Akte nicht vernichtet wird, falls ich sie nicht rechtzeitig zu sehen bekomme. Ich betrachte es als Beweis für die politische und moralische Integrität, in der Fichenkartei registriert zu sein.« Als ihm schließlich die Unterlagen ausgehändigt wurden, staunte er über die zahlreich darin enthaltenen dilettantischen Fehler ebenso wie über den wiederholten Verfassungsbruch. Sein Kommentar: »Die Fichenaffäre zeigt immer deutlicher, daß der Bundesrat sich über Jahrzehnte hinweg nicht nur als Verfassungsbrecher, sondern geradezu als Verfassungsverbrecher betätigt hat.« Er versuchte einen Kommentar zu seiner Fiche zu verfassen, doch er fand den richtigen Ton nicht: »Erst habe ich mit Wut geschrieben, doch da kam ich mir so lächerlich vor, dann habe ich es mit Ironie versucht, doch indem ich die anderen lächerlich machte, fühlte ich mich auch nicht besser.«
Bitterkeit
Die Zürcher Stadtratswahlen vom Frühjahr 1990 beendeten eine vierzigjährige bürgerliche Vorherrschaft und brachten eine rot-grüne Koalition an die Regierung. Ein junger Sozialdemokrat wurde Stadtpräsident. Frisch setzte große Hoffnungen in diesen Wechsel. Doch die neue Regierung fand einen Schuldenberg vor und verkündete als erstes einen rigorosen Sparkurs – auch in der Kultur. Frisch hielt dies für kurzsichtig. Die Linken, meinte er, litten unter dem unsinnigen Zwang, den Bürgerlichen beweisen zu wollen, wie sparsam sie mit Geld umgehen könnten. Zwar gewänne man in diesem Land mit Kulturpolitik leider keine Wahlen, doch sei eine Politik ohne Kultur auf die Dauer nichts wert. Frisch signalisierte den neuen Machtverwaltern seine Bereitschaft zu Rat und Gespräch. Seine Signale wurden monatelang ignoriert. »Keine Reaktion ist auch eine Reaktion. Man erfährt so den Stellenwert der Kultur in der neuen Politik. Im Ausland schätzt man mein Wort, hier gelte ich wohl schon als alter Schwätzer.«
Frisch konnte sarkastisch sein, doch er war nie ein ›Extremist‹. Sein ganzes Denken, auch da, wo es der Sozialdemokratie nahestand, wurzelte tief in der europäischen Aufklärung, in den Wertvorstellungen eines liberalen, kulturverständigen Bürgertums. »Als es in die Geschichte eingetreten war, unser Bürgertum, und das war ja keine Geldwäscher-Connection, das weißt du hoffentlich, das waren Männer freien Sinns, Jonas, und die meinten ja tatsächlich Demokratie«, räsonniert der Großvater in Jonas und sein Veteran. Frischs Zorn, sein Fast-Haß, seine Bitterkeit, das waren nicht Folgen des Alters, der Krankheit und der Enttäuschung, sie waren Folgen zunehmender Einsicht in die Tatsache, daß die heutigen Nachfahren jenes gelobten Bürgertums ihre eigenen moralischen, politischen und kulturellen Werte verlassen, ja verraten und die Schweiz zu einem »internationalen Finanzplatz, der langsam zum Himmel stinkt« verödet hatten. Frischs Zorn und Bitterkeit waren die Kehrseite seiner politischen und künstlerischen Integrität.
Diese Integrität hat ihm, über sein schriftstellerisches Können hinaus, Respekt bei seinen Gegnern, Zuneigung und Vertrauen bei seinen Anhängern verschafft. Frisch war eine Instanz. Als wir im Oktober 1990 mit der Vorbereitung seines achtzigsten Geburtstags am 15. Mai 1991 begannen, dachten wir erst nur an eine Veranstaltung im Schauspielhaus. Gespräche mit Freunden in anderen Kulturorganisationen ergaben überall die spontane Bereitschaft, diesen Geburtstag gemeinsam zu gestalten. So entstand die Idee eines Max-Frisch-Tags in Zürich. Die ganze Stadt sollte ihren größten Dichter seit Gottfried Keller feiern. Frisch, der sich jede offizielle Feier verbat, freute sich über diese Pläne und arbeitete am Programm mit. Gefreut hat ihn auch, daß Achim Benning ihn am Geburtstag zum Ehrenmitglied des Schauspielhauses ernennen wollte, und er versprach lachend, sich Mühe zu geben, so lange zu leben. »Und wenn ich es nicht schaffe, feiert trotzdem.«
Frisch starb am 4. April 1991.
»Einer davon bin ich«
Erinnerungen an Kindheit und Jugend (1911–1932)
Familienchronik
Max Rudolf Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren. »Unser Name ist nicht schweizerischen Ursprungs. Ein Großvater [Franz Frisch, 1838–1892], der als junger Sattler einwanderte, brachte ihn aus der österreichischen Nachbarschaft; in Zürich, wo es ihm anscheinend gefiel, heiratete er [1871] eine Hiesige, Naegeli mit Namen, Tochter einfacher Leute [Maria Luise Naegeli, 1850–1899, Glätterin aus Kilchberg]. Auch der mütterliche Stamm ist vermischt; dort war es ein Urgroßvater, der von Württemberg kam, namens [Gottlieb] Wildermuth [1836 in Zürich eingebürgert, Bäcker], und schon mit seinem Sohn, meinem Großvater also, fing es an: er nannte sich Maler, trug eine erhebliche Krawatte, weit kühner als seine Zeichnungen und Gemälde5 er heiratete dann eine Baslerin namens Schulthess, die nie ganz hat vergessen können, daß ihre Familie einmal eine eigene Droschke besessen hat, und leitete die Kunstgewerbeschule unserer Stadt. … Meine Mutter [Carolina Betty Wildermuth, 1875–1966], um einmal ins Weite zu kommen, arbeitete als Kinderfräulein im zaristischen Rußland, wovon sie uns öfter erzählt hat, und mein Vater [Franz Bruno, 1871–1932] war Architekt. Als Sattlerssohn hatte er sich keine Fachschule leisten können; die Kinder sollten es einmal besser haben.«6
Max Frischs Mutter, Carolina Betty Frisch, geb. Wildermuth. Foto Max-Frisch-Archiv.
Max Frischs Vater, Franz Bruno Frisch. Foto Max-Frisch-Archiv.
Max hatte zwei Geschwister: die zwölf Jahre ältere Halbschwester Emma Elisabeth aus des Vaters erster Ehe und den acht Jahre älteren Bruder Franz Bruno. Die Beziehung zu den beiden war unterschiedlich. 1975 vermerkte Frisch verwundert: »Im vergangenen Jahr ist meine Schwester gestorben. Ich bin betroffen gewesen, wie viel ich von ihr weiß; nichts davon habe ich geschrieben.«7 Der Bruder, promovierter Chemiker, wird im Werk des öftern als Beispiel des aufrechten Schweizers geschildert und war für den kleinen Max eine wichtige