Die Gliederung ergab sich aus dem gewählten Vorgehen. Die Kapitel verweisen auf wichtige Lebens- und Arbeitszäsuren. Dabei lassen sich – wie immer, wenn ein Kontinuum unterbrochen wird – gute Gründe für den Einschnitt anführen, wenn auch oft nicht minder gute dagegen. Man betrachte daher die Gliederung nicht statisch, sondern als Verschnaufpausen auf dem »laufenden Band« des Lebens.
Der erste Band betrachtet die Jahre 1911 bis 1955. Es ist die Zeit, in der Max Frisch sich vom konservativen Schweizerdichter zum linkskritischen, europäischen Intellektuellen entwickelt. Bislang unbekanntes Quellenmaterial eröffnet hier erstaunliche Einsichten. Der zweite Band behandelt die Jahre bis zum Tod 1991. Der Schriftsteller wird weltberühmt und zur umstrittenen moralischen Instanz im eigenen Land.
Die Sekundärliteratur zu Max Frisch übertrifft den Umfang seines Werks um ein Vielfaches. »Frisch fasziniert die Intellektuellen«, spottete Friedrich Dürrenmatt. »Sie finden bei ihm die Schwierigkeiten dargestellt, die sie auch haben, oder glauben, haben zu müssen.« Wozu also auch noch dieses Buch über Frisch?
Drei Gründe: Erstens, weil es keine Darstellung seines Lebens und Werks im historischen Kontext und für ein breites Publikum gibt. Die kleine Biographie von Volker Hage ist gut geschrieben, geht aber kaum auf die Werke und den Zeithintergrund ein und berichtet als Lebensgeschichte nur das, was Frisch selbst darüber geschrieben und erzählt hat. Dies trifft auch auf die Biographie von Karin und Lutz Tantow zu. Sie begeht darüber hinaus die Unanständigkeit, seitenweise Frischs eigenen Text zu paraphrasieren und als eigene Erkenntnisse auszugeben. Alle anderen Biographien, auch die literaturwissenschaftlich sorgfältig gearbeitete von Alexander Stephan, sind vergriffen und zehn Jahre und mehr veraltet.
Zweitens leben heute, betagt bis hochbetagt, noch einige Weggefährtinnen und -gefährten Frischs, deren persönlichen Erinnerungen und Dokumente sehr wertvoll sind. Für die frühen Jahre sind dies vor allem Frau Käte Rubensohn, seine erste große Liebe, Frau Trudy Frisch-von Meyenburg, die erste Gattin, und Hannes Trösch, der langjährige Mitarbeiter im Architekturbüro. Sie werden im Jahr 2011, wenn Frischs versiegelte Privata eröffnet werden, ihre kritischen Stimmen vermutlich nicht mehr erheben können.
Drittens war Frisch zwar berühmt, beliebt war er in weiten Kreisen – auch in linken – nicht. Sein politisches Engagement eckte an. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und dem Tod Frischs wünschten manche ihn endgültig auf den Müll der Geschichte. Ihrem Wunsch soll mit diesem Buch widersprochen werden.
Das Buch hat viele »Mütter« und »Väter«. Besonders gedankt sei: Frau Käte Rubensohn-Schnyder. Ihr verdanke ich die wichtigsten Informationen zum jungen Frisch; ihrem Mann Dr. Fortunatus Schnyder für die Überprüfung des Textes, Frau Trudy Frisch-von Meyenburg und Hannes Trösch für die Gespräche, Kathrin Straub für die Mitarbeit an der Entstehung des Buchs und dem Max-Frisch-Archiv in Zürich. Gedankt sei auch dem Kuratorium für die Förderung des kulturellen Lebens des Kantons Aargau für die finanzielle Unterstützung.
Ronchamp, im Frühjahr 1997
»Vom langsamen Wachsen eines Zorns«
Ein Prolog zur Erinnerung
Am 4. April 1991, einen guten Monat vor seinem achtzigsten Geburtstag, starb Max Frisch. Er hatte den Ablauf der Totenfeier in der Kirche St. Peter in Zürich bis ins Detail geregelt. Kein Vertreter der »Religion« und keiner der »Macht« sollte das Wort ergreifen. Freunde sprachen Abschiedsworte. Da Frisch weder an ein Weiterleben der Seele noch an die Auferstehung glaubte, da ihm auch der Gedanke an eine Gedenkstätte zuwider war, ordnete er an, seine Leiche zu verbrennen und die Asche der Luft und der Erde zu übergeben.
Wenige Monate zuvor war Dürrenmatt gestorben – mit Max Frischs Tod ging eine Epoche der Schweizer Literatur zu Ende. Die Nachrufe waren zahlreich und kontrovers. Doch bald schon wurde es still um Frisch. Die Taschenbuchausgabe seiner Gesammelten Werke verschwand aus dem Handel, seine politischen Mahnungen gerieten in Vergessenheit. Max Frisch ein Unzeitgemäßer?
Jonas und sein Veteran
Als Dramaturg der Uraufführung von Frischs letztem Theaterstück Jonas und sein Veteran am 19. Oktober 1989 am Schauspielhaus Zürich und am Théâtre Vidy, Lausanne (Regie Benno Besson), führte ich ab Sommer 1989 zahlreiche Gespräche mit Max Frisch: Gespräche über das Stück und seine Themen, das heißt über den moralischen Zustand der Schweiz, über Sinn und Unsinn ihrer Armee, über die Zukunft des Landes. Diese Gespräche fanden eine zwanglose Fortsetzung bis wenige Tage vor seinem Tod. Vom Sterben sprach er selten, obschon er wußte, daß es kurz bevorstand. Und wenn, dann nur in Randbemerkungen: »Man bekommt ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit«, oder: »Ich warte jeden Tag auf die Schmerzen, dann kommt das Morphium und dann …« Statt des Wortes die italienische Geste für va via. Aber auch gallenbittere Sätze haften in der Erinnerung: »Heute ist dieses Land zum Davonlaufen. Ich möchte eine Million abheben und verschwinden. Es liegt nicht an der Million, aber ich kann nicht mehr laufen.«3
Im Mai 1990 schenkte Frisch mir sein Buch Schweiz als Heimat mit der Widmung: »Vom langsamen Wachsen eines Zorns«. Als ich mich bedankte, ergänzte er: »Der Zorn ist schon fast ein Haß geworden.«
Als Achim Benning als neuer Schauspielhausdirektor im Sommer 1989 von Wien nach Zürich kam, war es für ihn selbstverständlich, Frischs Jonas und sein Veteran auf den Spielplan zu setzen. Ein neues Stück mit einem aktuellen Thema, geschrieben von einem weltberühmten Schweizer Autor mit einer besonderen Beziehung zum Schauspielhaus, inszeniert von einem der größten Schweizer Regisseure – solche Sternstunden sind am Theater selten. Benning war daher vom Widerstand überrascht, auf den sein Plan im Verwaltungsrat des Schauspielhauses stieß. Eine Gruppe konservativer Verwaltungsräte um die Herren Gilgen, Meng und Bieri versuchte das Stück, vor allem aber den geplanten Zeitpunkt seiner Uraufführung zu verhindern. Der Grund: Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSOA) hatte eine Volksinitiative zur Armeeabschaffung lanciert, die wenige Wochen nach der Jonas-Premiere zur Abstimmung gelangen sollte. Jonas und sein Veteran, so das Argument der Gegner, sei eine unstatthafte politische Einmischung des Theaters in die Abstimmungskampagne. Frisch hat sich über solche Pressionen nicht gewundert, er kannte seine Landsleute, doch Wut sprach auch aus seinen Worten: »Da lernen Sie, wie die Freiheit der Kunst bei uns funktioniert. Wir brauchen keine Zensur.« Und er reagierte auf seine Weise, indem er größten Wert auf erstklassige künstlerische Arbeit legte. Jede Form politischer Polemik lehnte er ab, auch im Programmheft: »Das ist die Ebene unserer Gegner und auf diese Ebene lassen wir uns nicht hinab. Bedenken Sie, auch wir sind die Schweiz, und unsere Schweiz ist nicht repressiv, nicht aggressiv, nicht polemisch. Und das zeigen wir vor.«
Politische Kultur
Im Anschluß an einige Jonas-Vorstellungen fanden kontroverse Diskussionen zum Thema »Schweizer Armee – wozu?« statt. Ich telefonierte, schrieb Briefe und erhielt bemerkenswerte Absagen von prominenten Kaderleuten der Schweizer Armee. »Ich lasse mich für Schaukämpfe im Theater nicht mißbrauchen«, schrieb der ehemalige Brigadegeneral Gustav Däniker. Politiker sprangen in die Bresche. Vor vollem Theater zog der ehemalige Justizminister, Altbundesrat Rudolf Friedrich, vom Leder: »Jonas und sein Veteran«, verkündete er, »ist ein wortreiches, aber es ist ein ebenso seichtes Geplauder. Es ist Polemik, Verdächtigung, Gerücht, Lächerlichmachung, Sarkasmus bis zur banalen Primitivität. Da erscheint ein alter, ein verbrauchter, müder und resignierter Max Frisch, der sich vor einen fremden Karren hat spannen lassen. Aus einem ehemals großen Geist ist ein kleiner geworden. Sein geistiger Niedergang wird vordemonstriert. Max Frisch ist nicht faktisch, aber er ist geistig erledigt.«4 Später berichtete Frisch von infamen Telefonanrufen, zeigte mir anonyme Schmähbriefe. Die Feigheit solcher Attacken hat ihn immer von neuem empört.
Schließlich kam die Initiative »Schweiz ohne Armee« zur Abstimmung. Das Resultat – ein Drittel der Schweizer votierte für die Abschaffung – war auch für Frisch eine Riesenüberraschung. Anfänglich hatte er nämlich die Initiative abgelehnt, denn er prognostizierte eine Ablehnung durch das Volk, die so wuchtig ausfallen werde, daß auf Jahre hinaus jede Kritik an der Armee