"Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England". Simone Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simone Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551263
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nach dem Hotel. Er führte sie zu einem Gebäude, aber Dora erkannte es nicht. Erst als der Marroniverkäufer sie auf die Rückseite führte, wusste Dora, dass sie am richtigen Ort war. Dienstboten durften nur den Hintereingang benutzen, und so kannte Dora das Hotel, in dem sie zwölf oder vierzehn Stunden täglich arbeitete, nur von der Rückseite.

      Seit 1969 wohnt Annetta in einem weiss getünchten Haus in Dollis Hill, auf einem Hügel im Nordwesten von London. Von ihrem Wohnzimmer aus sieht Annetta auf die Stadt. An den Wänden hängen Aquarelle vom Familienhaus im Tessin und eine Farb­fotografie von Dangio, von der anderen Talseite aus aufgenommen. Auf dem kleinen Sofatisch liegt ein italienisches Buch – «Le terme di Acquarossa» – über die Thermalquelle im Bleniotal.

      Annetta schaut oft zu den Fenstern hinaus, auch in der Nacht, auf die Lichter von London. Diese Weite und die Aussicht sind ihr wichtig. Sie erinnern sie an das Bleniotal. Auch Dangio liegt an einem Hang.

      Cima Norma

      Zu Hause in Dangio mussten Annetta und ihre drei Geschwister viel helfen, wie alle Kinder im Dorf. Putzen, bügeln, Gemüse rüsten; Kastanien sammeln. Die Eltern hatten zwei oder drei Kühe, Schweine, Hühner, ein paar Kaninchen. Die Kinder beklagten sich jeweils, wenn sie im Herbst wieder auf die Greina hinaufmussten, um die Kühe zu holen, ein Weg dauerte fast fünf Stunden. «Wir wollten lieber spielen. Wir waren glück­liche Kinder, weil wir viel Freiraum hatten zum Spielen.» Das Dorf war voller Kinder, etwa zwölf waren im gleichen Alter wie Annetta. Vor Weihnachten oder vor dem Muttertag – Fiesta della Mama, sagt Annetta – sassen die Mädchen zusammen und stickten für ihre Mütter. Die Familienbande waren eng, «sehr eng», einer stand für den andern ein: die vier Geschwister, die Mutter, der Vater. Der Kontakt zur Familie, zum Dorf ist eng geblieben. 1955 ging Annetta nach England, seither ist sie jedes Jahr einmal nach Dangio zurückgekehrt.

      Annetta skizziert die Dinge mit wenigen, kurzen Sätzen. Ihre ­Beschreibungen konzentrieren sich aufs Wesentliche, mit Details hält sie sich nicht auf. Wie lange sie zur Schule ging, sieben oder acht Jahre? Annetta macht eine wegwerfende Handbewegung: Sie weiss es nicht mehr so genau. Sie lacht. «Wichtig? Wirklich wichtig ist das nicht.»

      Sieben oder acht Jahre Schule in Dangio also, dann das obliga­torische Hauswirtschaftsjahr in Biasca. Ein Jahr als Au-pair bei einer Familie in Wettingen, Kanton Aargau, Annetta lernte Deutsch. Später habe sie alles wieder vergessen, aber damals: ­«I could really speak German.» Danach half Annetta zu Hause aus. Und sie arbeitete in der Schokoladenfabrik Cima Norma in Dangio.

      1903 waren die Gebrüder Cima – einst aus dem Bleniotal nach Nizza ausgewandert – ins Tessin zurückgekehrt und hatten in Dangio eine Schokoladenfabrik gegründet. In den ersten Jahren war das Unternehmen vom Pech verfolgt – 1908 wurde die Fabrik von einer Rüfe weitgehend zerstört, 1915 brannte das Hauptgebäude nieder –, danach wendete sich das Blatt. Cima Norma wurde mit 340 Arbeitsplätzen zum wichtigsten Indu­s­triebetrieb im Bleniotal. Coop, Usego und Volg waren Hauptabnehmer der auf fast 800 Metern Höhe über Meer produzierten Schokolade. Bis 1966 war Cima Norma die Schokoladenhausmarke von Coop. Viele, die auswandern und ihren Lebensun­terhalt in der Fremde hätten verdienen müssen, konnten dank Cima Norma im Tal bleiben. Annettas Vater arbeitete dort ebenso wie Annetta und eine ihrer beiden Schwestern. Die Schwester arbeitete im Büro, Annetta in der grossen Halle, wo die Schokolade in Papier gewickelt und in Kisten verpackt wurde.

      Als die Fabrik 1968 geschlossen wurde, bedeutete das für das Tal einen massiven Verlust von Arbeitsplätzen. «Was für eine Tragödie!», sagt Annetta – sie selber war damals schon seit Langem in London.

      Ein schreckliches Jahr

      Annetta kannte Giuseppe Diviani schon vor jenem Sommer, in dem er sie fragte, ob sie nach England kommen wolle, allerdings nur flüchtig. Giuseppe, an der Oxford Street geboren und in London aufgewachsen, kam manchmal in den Ferien nach Dangio, in das Dorf, aus dem seine Mutter stammte. Als Giuseppe Annetta im Sommer 1954 nach England einlud, sagte Annetta sofort Ja. Im Frühling 1955 ging sie also nach London, mit dem Zug und dem Schiff. Zurück flog Annetta mit dem Flugzeug. Die Mutter hatte sich gewehrt: «No, no, no.» Sie wollte nicht, dass ihre Tochter in ein Flugzeug stieg. Aber Giuseppe hatte insistiert. «Die Flughäfen waren damals fast leer. Fliegen war schon noch ein ziemliches Abenteuer.» Im Sommer 1955 fuhr Annetta wieder nach London, wieder mit dem Zug, diesmal um zu heiraten. Eine Schwester und der Bruder begleiteten sie.

      «Was für eine Tragödie!», sagt Annetta, wenn sie von dem Unfall spricht, der sich in Dangio wenige Tage vor ihrer Abreise ereignete. Zwei von Annettas Cousins wurden im August 1955 von einem Motorrad getötet. «Vor dem Abendessen gingen wir noch ein wenig spazieren, das war so üblich in Dangio», erzählt Annetta. Und das taten an jenem Abend auch ihre drei Cousins, als das Motorrad mit übersetzter Geschwindigkeit durchs Dorf raste. Der Lenker verlor die Kontrolle und fuhr in die drei Brüder; nur einer von ihnen überlebte. Am 15. August, wenige Tage nach der Beerdigung, ging Annetta nach London. Am 27. August heiratete sie Giuseppe Diviani.

      «Was für eine Tragödie!», sagt Annetta auch, wenn sie von ihrem Schwager spricht, dem Mann von Giuseppes Schwester Linda. Eine Woche, nachdem Annetta und Giuseppe geheiratet hatten, brach der Schwager auf dem Tennisplatz zusammen. Freunde, die das Spiel verfolgten, meinten zuerst, er mache einen Witz. «He was a joker.» Einer, der gerne den Clown spielt. Aber der Schwager hatte diesmal keinen Witz gemacht; sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

      Als Annetta schwanger wurde, freute sich Giuseppes verwitwete Schwester Linda, die selber keine Kinder hatte bekommen können. Immer wieder sagte sie zu Annetta, wie sehr sie sich freue. Ein paar Tage, bevor Annettas Kind zur Welt kam, hatte Linda einen Motorradunfall. Linda hatte den Roller selber gefahren und war sofort tot. Annetta brachte ein Mädchen zur Welt. Sie tauften es Linda.

      «Was für Tragödien!», sagt Annetta, wenn sie von diesem Jahr spricht. Aber danach blieb das Unglück aus. Eine gute Ehe, «a very very good man», sei Giuseppe gewesen. Annetta lacht. Und fügt sogleich hinzu: «Eine Beziehung ist immer auch harte Arbeit.» Sie hat sich ganz auf ihre drei Kinder eingelassen, Linda, Stéphanie und Philip. «Ich wollte die Kinder, und ich wollte sie selber aufziehen.» Giuseppe verdiente als Optiker bei der Firma Carl Zeiss genug, um die Familie zu ernähren.

      Giuseppe? Es gibt etwas, worüber Giuseppe nie gesprochen hat. Er sprach nie über den Krieg, über die vier oder fünf Jahre als Marinesoldat bei der britischen Navy. Giuseppe erzählte Annetta nur, es habe ihm gefallen: «He loved it.» Und dass er an allen möglichen Orten auf der Welt gewesen sei mit der Navy, in Russland zum Beispiel. Aber sonst erzählte Giuseppe nichts. Annetta hat das oft gehört von anderen Frauen in London, dass ihre Männer, die im Zweiten Weltkrieg an der Front gewesen waren, später nie mehr darüber sprechen wollten. Nur etwas hat Giuseppe dann doch erzählt: Dass das Schiff, auf dem er im Einsatz war, einmal bombardiert wurde. Giusep­pe blieb unverletzt. Aber viele seiner Kollegen, die über Monate hinweg mit ihm auf dem gleichen Schiff gewesen waren, starben.

      Es gibt diese Briefe, die Giuseppe an seine Eltern geschrieben hat, während er bei der Marine war. Seine Mutter bewahrte sie auf, jetzt sind die Briefe bei Annetta. Sie hat sie alle gelesen, und sie hatte gehofft, etwas mehr über Giuseppes Zeit im Krieg zu erfahren. Aber Giuseppe berichtete auch seinen Eltern nicht, was er erlebte. Vielleicht seien die Briefe zensiert worden, meint Annetta. Oder Giuseppe konnte nicht über das schreiben, was er erlebt hatte. So wie er später nicht darüber sprechen konnte.

      Maisgries aus dem Tessin

      Ob sie mit ihren drei Kindern Italienisch gesprochen habe? Nein, sagt Annetta, aber Tessiner Dialekt. So, wie man zu Hause in Dangio sprach. Linda, die älteste Tochter, arbeitete später in der Reisebranche. Sie habe in Siena Italienisch gelernt, Philip hingegen, der Sohn, spreche nicht Italienisch, erzählt Annetta. «Nur Dialekt.»

      Als sie nach London kam, konnte Annetta kein Wort Englisch. «Nothing at all.» Eigentlich wollte sie damals eine Schule besuchen, um Englisch zu lernen – Rechtschreibung, Gram­matik –, aber irgendwie war es dann doch nie dazu gekommen. Nach der Heirat hatte Annetta mit dem Schwiegervater ihr Haus in