Dennis ist seit ein paar Wochen im Spital. Einmal läutet es an der Haustüre, ein Spezialstuhl wird geliefert – Maria bereitet sich auf seine Rückkehr vor. Dennis wird bald neunzig. Er hat verschiedene Beschwerden und wird, wenn er aus dem Spital kommt, nicht laufen können. «Aber das ist mir gleich. Wenn ich ihn nur zu Hause habe.»
Eine Schwaninger
Viele Erinnerungen an die «Talrose» in Guntmadingen sind gut. «Es war schön daheim, als ich jung war. Man kannte sich im Dorf, wir sind mehr oder weniger alle zusammen aufgewachsen.» Vor Weihnachten trafen sich die Mädchen in einer der grossen Bauernstuben, strickten, halfen einander mit den Handarbeiten. «Und später, als wir älter waren, gingen wir manchmal am Sonntagnachmittag heimlich tanzen ins Nachbardorf. Wenn die Mutter das gewusst hätte!»
Bevor Maria Dennis heiratete, hatte sie Schwaninger geheissen. «Fast alle im Dorf haben Schwaninger geheissen.» Früher, erzählt Maria, seien viele im Alter dement geworden. «Als man dann anfing, aus dem Dorf hinauszuheiraten, wurde es besser.» Auch Marias «Schuelerschatz» war ein Schwaninger gewesen. Walter wartete auf Maria, wenn sie nach dem Konfirmandenunterricht abends alleine über das Feld nach Hause musste, und begleitete sie. Durch «dick und dünn» seien sie zusammen gegangen, während der ganzen Schulzeit und auch nachher noch. Aber Walter hatte dann eine andere geheiratet, eine Deutsche. «Es tat ein wenig weh.»
Auf dem kleinen Tischchen in Marias Wohnzimmer, auf dem Sofa und auf den Kommoden, liegen gestickte Untersätze und gehäkelte Decken. Rosa und weiss. Wenn Maria in der «Talrose» in Guntmadingen zu Besuch war, hatte die Mutter ihr jedes Mal etwas Gesticktes oder Gehäkeltes mitgegeben – für die «Talrose» in England.
Marias Mutter hatte einen Beruf gelernt, Modistin. Was er denn mit einer Hutmacherin wolle, hatte man den Vater im Dorf gefragt, als die Eltern heirateten. Die könne doch wohl nicht bauern. «Dabei hat sie mehr gearbeitet als alle andern!» Abends, wenn die Kinder schliefen, sass die Mutter bis um Mitternacht in der Stube, nähte Kleider für die Familie.
Die Mutter hatte Maria einige Male in England besucht, der Vater war nie gekommen: «Er konnte es nicht begreifen, dass ich ins Ausland ging. Ich sagte oft, er solle uns doch einmal besuchen, damit er sehe, wo ich wohne. Er meinte dann, er sterbe lieber auf dem Boden, als dass er fliege. Ein richtiger Bauer! Er ging überhaupt nie fort.»
Während des Kriegs, als der Vater im Militär war, schauten die Mutter und Bruno, der Sohn, zum Hof. Bruno, der älteste der sieben Geschwister und einziger Sohn, hätte den Hof später übernehmen sollen. Bruno starb 1946 an Leukämie. Er war 21 Jahre alt, Maria vierzehn.
«Heute bin ich stolz»
2013 ist Maria 81 Jahre alt – sie näht noch immer. «Seit der Lehre war ich eigentlich nie, ohne zu schneidern.» Sie hat noch ein paar Kundinnen, eine ist 98. Jeden Frühling näht Maria für sie eine neue Bluse. «Neulich hat sie zu mir gesagt, wenn sie dann einmal keine neue Bluse mehr wolle, sei sie nicht mehr am Leben.»
Dennis wird Ende Februar 2013 vom Spital nach Hause kommen. Maria wird ihn pflegen bis zu seinem Tod ein paar Monate später und dann alleine in der «Talrose» zurückbleiben.
Kinder? «Jetzt denke ich manchmal schon, es wäre schön, wenn noch jemand da wäre.» Es war nicht so, dass sie keine Kinder gewollt hätten. «Aber Dennis war schon 35, als wir heirateten, und dann mussten wir sparen für ein Haus. Irgendwie passte es nie, und zuletzt war es dann zu spät.»
Heimweh? «Nie. Nur an Weihnachten, wenn es hier regnete, dachte ich manchmal an den Schnee, den wir früher, als wir Kinder waren, zu Hause hatten. Und den Wald habe ich vermisst.»
Gibt es etwas, was ihr wichtig ist, über das wir nicht gesprochen haben? «Nein, nichts», sagt Maria. Und dann: «Ich war eigentlich immer zufrieden mit meinem Leben.»
Wieder zieht sie den eleganten roten Mantel an, steigt in ihr rotes Auto und fährt zum Bahnhof Sudbury zurück. Auf der Rückscheibe des Autos klebt das Schaffhauser Kantonswappen, schwarzer Widder vor gelbem Hintergrund. Der Widder streckt die rote Zunge heraus. Während sie fährt, erzählt Maria noch einmal vom Schneidern, von den vielen Stoffen, die sie noch immer zu Hause hat.
«Früher habe ich mich für meinen Beruf geschämt. Als Schneiderin wurde man immer etwas von oben herab betrachtet, und ich hatte dann auch das Gefühl, das sei etwas Minderwertiges. Ein Hungerleiderberuf. Aber heute bin ich stolz darauf. Jedes Mal, wenn ich etwas nähe, denke ich: Es ist einfach schön.»
Maria Gibbs-Schwaninger ist am 3. Dezember 2016 in Glemsford gestorben.
Annetta Diviani-Morosi am 8. März 2016 in London.
Kleine Fotografie an der Wand: Familienhaus in Dangio TI.
Grosse Fotografie hinten: Giuseppe Diviani.
«Ich habe das Glück
auch in London gefunden»
In Annettas Geschichte geht es um ein kleines Dorf in einem der nördlichen Tessiner Täler, in denen abends in einer grossen Pfanne über dem Feuer Kastanien gebraten und mit salata mista für das Nachtessen zubereitet wurden. Die Kinder sammelten nach der Schule grosse Säcke voll von Kastanien für das Abendessen, und auch für die Schweine. Diejenigen für die Schweine mussten geschält und getrocknet werden: «Das machten wir gar nicht gerne. Aber aus den Schweinen, die mit Kastanien gefüttert wurden, gab es das allerbeste Fleisch!»
In Dangio im Bleniotal waren die Menschen früher so arm, dass viele das Tal verlassen und in der Fremde Arbeit suchen mussten. Annettas Geschichte ist eng verknüpft mit der Geschichte ihrer Schwiegermutter, Dora Diviani, die 1913 nach London ging, um als Wäscherin in einem Hotel zu arbeiten.
Durch den Hintereingang
Als der englische Schriftsteller Samuel Butler im 19. Jahrhundert auf einer seiner Reisen in die benachbarte Leventina kam, stellte er erstaunt fest, dass es in dem abgelegenen Tal viele Kinder gab, die miteinander Englisch sprachen. Er fragte sich, weshalb, und fand heraus, dass die Eltern dieser Kinder aus der Leventina emigriert waren, weil sie keine Möglichkeit gehabt hatten, sich im Tal eine Existenz aufzubauen. Sie waren nach London gegangen und hatten in einem der vielen von Tessinern betriebenen Restaurants und Hotels gearbeitet. Nach ein paar Jahren schickten sie ihre Kinder nach Hause in die Obhut von Verwandten, während sie selber weiterhin in London den Lebensunterhalt verdienten.
Annetta wäre wohl kaum nach London gekommen, wenn sich nicht ihre Schwiegermutter Dora Diviani als Fünfzehnjährige auf der Suche nach Arbeit in die britische Hauptstadt aufgemacht hätte. Schon Doras Eltern waren aus Dangio nach London ausgewandert, wo Dora geboren wurde. Die Mutter kehrte mit ihr ins Bleniotal zurück, der Vater blieb in London als Portier in einem grossen Hotel. Als Dora dann selber nach London ging, arbeitete sie so viel, dass sie von der britischen Hauptstadt nichts anderes kannte als ihr Zimmer und das Hotel –