Über dieses Buch
In der Zwischenkriegszeit gingen sie zu Hunderten, in den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren zu Tausenden. Sie hiessen Emma, Bertha oder Marie und kamen aus Wilderswil, Urnäsch oder Bellinzona. Sie arbeiteten als Hausangestellte, Kindermädchen oder Gesellschafterinnen in Liverpool oder London und auf Landgütern von Adligen.
Sie gingen, obwohl die Medien warnten: vor dem britischen Wetter, vor dem englischen Klassendünkel, vor unerwünschten Schwangerschaften. Ein Massenexodus von Frauen, wie er in der Schweizergeschichte wohl kein zweites Mal vorkam. Und wenn sie in England geblieben sind, dann fast immer deshalb, weil genau das passierte, wovor sie so eindringlich gewarnt worden sind: Sie verliebten sich, wurden schwanger, haben geheiratet.
Simone Müller erzählt elf beispielhafte Lebensgeschichten dieser Frauen, die heute fast ganz aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden sind. Und sie erzählt auch von einer der grössten Repatriierungsaktionen der Schweiz, als fast tausend Frauen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zurückgeholt wurden.
Foto Mara Truog
Simone Müller, geboren 1967 in Boston (usa), aufgewachsen in Bern. Studium der Germanistik und Ethnologie in Bern und Wien, 2003–2005 lebte sie in London. 2015 veröffentlichte sie die Biografie «Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Die Geschichte der Claire Parkes-Bärfuss». Simone Müller lebt als freie Journalistin und Autorin in Bern.
Mara Truog, geboren 1977 in Bern, studierte in London und Zürich Fotografie. Mehrere Ausstellungen und Publikationen zum Thema Alter/Frauen im Alter, 2016 wurde sie dafür mit dem 1. Preis des Swiss Press Award in der Kategorie Porträts ausgezeichnet. Sie lebt als freischaffende Fotografin in Zürich.
Simone Müller
«Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England»
Die vergessenen Schweizer Emigrantinnen 11 Porträts
Fotografien von Mara Truog
Limmat Verlag
Zürich
Die vergessenen Emigrantinnen
«Man sollte – wenn immer möglich – nie im Herbst nach London reisen. Der englische November und auch der Dezember sind mit ihren düsteren, nasskalten Nebeltagen für viele Jungen unerträglich. Zum natürlichen Heimweh kommt das trostlose Wetter, und dann entwickelt sich jene Panik, die oft ins Verderben führt.»
«Das Englandjahr», Merkblatt Verein «Freundinnen junger Mädchen», 1959
In ihren Wohnungen hängt das Bild der Queen neben einem geschnitzten Holzlöffel aus der Käserei Trubschachen, und auf dem Kaminsims steht ein kleiner Bergkristall aus Davos neben einer bunten Postkarte der Kathedrale von Canterbury.
Sie leben seit mehr als sechzig Jahren in England. In ihren Biografien treffen zwei Kulturen und zwei Sprachen aufeinander, was sich auch in ihren Doppelnamen spiegelt: Bruce-Weber; Gibbs-Schwaninger; Webb-Eggen.
Wie Tausende von jungen Schweizerinnen gingen sie in den Dreissiger-, Vierziger- und Fünfzigerjahren als Hausangestellte oder Au-pairs nach England, weil sie Englisch lernen wollten. Anders als viele, die nach ein oder zwei Jahren in die Schweiz zurückkehrten, sind die in diesem Buch porträtierten Frauen jedoch in England geblieben. Einige zögern am Telefon und sagen, sie wüssten nicht, ob sie das noch könnten: Schweizerdeutsch. Wie Myrtha Parsons-Biedermann zum Beispiel – sie versteht dann doch jedes Wort. Über dem Kamin in ihrem Wohnzimmer in Shepperton hängt eine Kopie des Bundesbriefes.
Ein Exodus
In den späten Vierzigerjahren machten sich jährlich ungefähr 4000 bis 5000 junge Schweizerinnen nach England auf, in den Fünfzigerjahren waren es gemäss zeitgenössischer Medienberichte und Statistiken von Hilfsstellen wie dem «Sozialsekretariat für Schweizerinnen im Ausland» etwa 7000 pro Jahr – genaue Zahlen gibt es nicht. Frauen, die im Ausland lebten, wurde die Anmeldung auf einer schweizerischen Konsularvertretung zwar empfohlen. Im Unterschied zu den Männern, die sich wegen der Wehrpflicht zwingend anmelden mussten, gab es für sie jedoch keine Meldepflicht. Viele Frauen liessen sich nie registrieren. Und weil sie nur für eine befristete Zeit gingen, mussten sie sich in der Schweiz nicht abmelden.
In den Fünfzigerjahren wurde in den Medien ausführlich über diese jungen Frauen berichtet. Von einem «Exodus» war die Rede und von einem «Massenphänomen». Die Thurgauer Zeitung schrieb im Februar 1956: «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen in Scharen gegen England an eine Haushaltsstelle.» Dennoch sind diese Frauen – und damit ein Kapitel Schweizer Emigrationsgeschichte – aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Es gibt keine historische Publikation, die sich mit dem Massenphänomen beschäftigt.
In Erinnerung geblieben sind jedoch persönliche Geschichten: Die Erzählungen von Grossmutter Johanna, die in den Dreissigerjahren an der schottischen Küste eine lange Wanderung unternommen und in einem selbst gebastelten Zelt aus Farn übernachtet hatte; die Geschichte von Grosstante Elsa, die in Nordlondon täglich die gleichen Silberlöffel putzen musste. In Erinnerung geblieben ist auch die Bedeutung, die der zweijährige Englandaufenthalt für die Mutter zeitlebens gehabt hatte – sie, die nachher kaum noch weggekommen war aus dem Dorf im Zürcher Oberland. Bilder und Bruchstücke aus den Erzählungen von Urgrosstanten, Cousinen, Schwiegermüttern und Grossmüttern sind in der Schweiz präsent. Weil so viele gegangen sind, gibt es kaum eine Familie, in der nicht irgendjemand von einer nahen oder entfernten Verwandten weiss, die als junge Frau auch einmal in England war – und wieder zurückgekommen oder für immer dort geblieben ist.
Schweizerinnen statt Österreicherinnen
Bereits in den Dreissigerjahren sind Hunderte von jungen Schweizerinnen nach England gegangen, manche auch nach Irland oder Schottland. Weil sie Englisch lernen wollten oder aus wirtschaftlichen Gründen. Mina Rui-Oppliger, 1919 geboren, erzählt im Porträt «Wir sahen die Schweizer Mobilmachung in London im Kino», wie schwierig es für Hausangestellte in der Schweiz war, Arbeit zu finden: «Niemand hatte Geld, und es gab fast keine Stellen. Und wenn man Arbeit hatte, verdiente man kaum genug, um davon zu leben.» Die 2016 verstorbene Irene Schenker-Odermatt, die ebenfalls in den Dreissigerjahren in England war, schickte ihrer Familie in Engelberg jeweils fünf Pfund nach Hause – ihr jüngerer Bruder erzählte sein Leben lang, wie froh die Familie über diese Unterstützung gewesen sei.
In England, wo die Klassengesellschaft besonders stark ausgeprägt war, beschäftigten vor dem Zweiten Weltkrieg auch Familien des unteren Mittelstandes ein oder zwei Hausangestellte, und nicht einmal während der Weltwirtschaftskrise in den Dreissigerjahren war genug einheimisches Personal da, um den Bedarf zu decken.
Auch viele Österreicherinnen waren in englischen Haushalten angestellt. 1938, nach dem Anschluss von Österreich an Deutschland, konnten sie jedoch nicht mehr ausreisen. Agenturen und Privatpersonen suchten in der Schweiz nach Ersatz – eine Entwicklung, die das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit biga kritisch beobachtete. In einem Schreiben vom 10. Juni 1938 an den Verein «Freundinnen junger Mädchen» fjm heisst es: «Der Anschluss Österreichs an Deutschland hat die Tendenz der gewerbsmässigen Agenturen, möglichst viele Schweizerinnen in England zu plazieren, noch stark begünstigt. Der unerfreuliche Zustand hat sich verschärft.»
Die fjm wurden im 19. Jahrhundert zur Bekämpfung der Prostitution gegründet und arbeiteten eng mit den Behörden zusammen. Sie betrieben in Bern ein eigenes «Englandplazierungsbüro», das Stellen in englischen Familien vermittelte. Die privaten Agenturen hingegen waren den Behörden ein Dorn im Auge. Sie hatten den Ruf, die Stellen nicht seriös genug zu prüfen. Dem Bund fehlten jedoch die rechtlichen Grundlagen, um gegen sie vorzugehen.
Kein Schweizer Bürgerrecht mehr
Kaum waren nach