Miló. Alberto Nessi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alberto Nessi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038550402
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Schönheit zu genießen

      wie der Sperber, der am Himmel die Flügel ausbreitet?

      Bald setzen die Frauen zur Messe den Schleier auf

      die Kühe haben am Brunnen getrunken

      in der Küche kocht man peilà

      heute Abend geht’s nach Septumian zum Treffen mit dem Kommando

      Pierino ist abgehauen,

      seit drei Tagen saß er bei Solari und trank,

      da, es wird hell, Miló knipst die Masten,

      die in die Luft fliegen sollen,

      seine Männer werden kommen mit dem Sprengstoff

      man braucht Disziplin,

      Brot und Käse.

      Mario ist im Gras eingenickt

      er ist doch erst fünfzehn

      jetzt steigen sie zur Staatsstraße hinunter, Vorsicht,

      hier fährt das Auto der Faschistenrepublik durch,

      jetzt können wir gehen, sagt Miló, sie sind vorbei,

      ja, sie sind vorbei

      er umklammert den Fotoapparat in der Tasche

      im Talgrund überqueren sie die Straße

      hinter der Abzweigung nach Pontey,

      doch da, auf der Staatsstraße, vier Lastwagen

      kehren von der Razzia zurück

      die Gewehrläufe noch heiß

      verfluchter Mist

      Miló und Mario rennen auf die Häuser von Breil zu

      sie rennen, rennen

      dann jeder auf eigene Faust

      dort ist die Bahnunterführung

      weg von den Häusern

      Vergeltungsmaßnahmen der Schwarzhemden,

      sie brennen nieder, foltern, nehmen Geiseln

      bloß weg von den Häusern von Breil!

      Miló umklammert die Handgranate in dem Säckchen

      das Leinensäckchen hat seine Ida ihm genäht

      die Frau, die er mehr liebt als alle anderen Frauen

      dort vorn ist die Brücke über die Dora

      da ist sie, die Brücke

      Miló zieht die Granate heraus

      dreht sich zu den Faschisten um und schreit

      doch die Garbe trifft ihn ins Gesicht, mitten ins Gesicht

      so lassen sie ihn liegen, neben der Dora

      das Gesicht voller Blut

      nehmen ihm Schuhe, Uhr und Ring ab

      ja, auch den Ring, den Ida ihm geschenkt hat

      lauf wenigstens du, Mario, lauf, wirf dich ins Heu

      die Heugabel des Soldaten kann dich nicht finden

      doch jetzt schießen sie erneut

      die Musketiere aus den Alpen schießen

      schießen auf ein kleines Mädchen

      aus einem Haus kommt noch ein Junge

      hat die Schüsse gehört, will nachsehen, was los ist

      und die Garbe trifft ihn voll:

      es ist Vittorio, einer aus dem Valtournenche

      ein Partisan von neunzehn Jahren

      er war heimgekommen, um die Weiden zu

      bewässern.

      Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

      Heute ist Sonntag, ein Sonntag im April, und in allen Dörfern läuten früh die Glocken zur Messe, die Frauen legen den schwarzen Schleier an, die Heilige Maria vom Schnee verlässt ihre Nische, um dich anzusehen, setzt das Kind, das sie im Arm trägt, auf den Boden und lässt es aus den ersten Blumen eine Girlande winden, sie tritt zu dir und wischt dir das Blut vom Gesicht, und mit ihr kommen nun die Madonnen aus den Nachbardörfern, Notre-Dame des sept douleurs, Notre-Dame de Pitié, Notre-Dame de l’Epine und Notre-Dame de la Guérison mit dem Wundermantel, bald wird hier das Weidenröschen zwischen den Trümmern blühen.

      Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

      Mario konnte sich retten, tsamba de bouque, das Hinkebein, wollte ihn mit der Heugabel aufspießen, doch er hat sich tief im Heu verkrochen, wie eine Eidechse ist er in den Schober gehuscht und wartet nun auf dich, um nach La Suelvaz zu laufen, wo die Bande dich braucht, damit die Männer losgehen und die Masten in die Luft sprengen können.

      Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

      Da ist Ida allein, mit der Kleinen auf dem Arm, die noch einmal deine Stimme hören will, und dann machst du für sie den Kuckuck nach, der nun zu rufen beginnt, um dich zu wecken: Ist Sterben wirklich, als erwachte man aus einem tiefen Schlaf? Jeden Tag fliegt eines fort und ein anderes kommt, lass uns nicht allein dem Lied der Dora lauschen.

      Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

      Jetzt kommt der Pilot Bassanesi mit seinem Eindecker und rettet dich, er nimmt dich mit; er ist in der Schweiz losgeflogen und hat deine Mutter Joséphine-Amérique dabei, die die steinernen Löwen der Place Orientale verlassen hat, um zurückzukehren nach Fénis, wo sie ein junges Mädchen war, sie hat dich schon ziemlich lange nicht mehr gesehen, verstecke dich nicht, steh aus dem Staub auf, Miló, zieh dich um, empfange sie im Sonntagsstaat.

      Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

      Zeige dein Gesicht noch einmal den Arbeitern von Cogne, die mit glühenden Stahlschlangen aus dem ganzen Tal herkommen, um zu beweisen, dass der Kampf für die Unabhängigkeit nicht nur eine Region betrifft, sondern jeden Einzelnen, so wie du dachtest: Die Unabhängigkeit gilt für jeden von uns, in unserem Leben, wenn es die Ketten abwirft.

      Epilog

      Parma, 3. März 2009

      Ich fahre nach Oltretorrente, um Ida Summer zu besuchen, Milós Witwe. Ich überquere den Ponte di Mezzo. Auf der Wiese am Flussdamm sind noch weiße Schnee­flecken, und am Brückengeländer lehnt ein alter Mann und beobachtet ein Nutria, eine Biberratte, die langsam aus dem grünen Wasser kommt, um an Land zu klettern. Plump, das wilde Nutria. Eine fette Ratte. Sie aalt sich im milden Märzlicht, das die Fahrräder auf dem Asphalt quietschen lässt und Umarmungen begünstigt; doch die Frau, der ich auf der Brücke begegne, möchte alle Nutrias nur umbringen. Auf der anderen Seite der Brücke das Denkmal eines Mannes, der seinen aufgebäumten Körper den Beleidigungen der Geschichte darbietet.

      In dieser Straße ist der Dichter Renzo Pezzani geboren – hier ist die Gedenktafel –, in einer der Wohnungen über den Kebab-Läden, einem Geschäft, das wertvolles Porzellan verramscht. Ida lebt hier in diesem volkstümlichen, am Samstag stillen Viertel versteckt in einem Altersheim. Niemand kennt ihre Geschichte. Die Pförtnerin schaut in der Liste der Heimbewohner nach, findet aber den Nachnamen Lexert nicht. Die Witwe lebt versteckt.

      Doch sie ist da, kommt mir im Trainingsanzug entge­gen. Darüber eine zu weite Jacke, dieses Jahr ist der Winter auch in Parma lang. Sie schlief gerade in ihrem Zimmer, entschuldigt sie sich. Leicht wie eine Mücke schwebt sie durch die Gänge. Ich überreiche ihr den Strauß roter Tulpen, und wir setzen uns in einen Aufenthaltsraum, der sich nach und nach belebt: Neben uns stößt eine unförmige Frau stotternd ein paar Schreie aus, eine kleine Mongoloide ist still, eine lange Dünne kann sich nicht auf den Beinen halten. Ich frage nach einer Schere, um die Schleife an den Tulpen aufzuschneiden. Doch eine der verlassenen