wie der Sperber, der am Himmel die Flügel ausbreitet?
Bald setzen die Frauen zur Messe den Schleier auf
die Kühe haben am Brunnen getrunken
in der Küche kocht man peilà
heute Abend geht’s nach Septumian zum Treffen mit dem Kommando
Pierino ist abgehauen,
seit drei Tagen saß er bei Solari und trank,
da, es wird hell, Miló knipst die Masten,
die in die Luft fliegen sollen,
seine Männer werden kommen mit dem Sprengstoff
man braucht Disziplin,
Brot und Käse.
Mario ist im Gras eingenickt
er ist doch erst fünfzehn
jetzt steigen sie zur Staatsstraße hinunter, Vorsicht,
hier fährt das Auto der Faschistenrepublik durch,
jetzt können wir gehen, sagt Miló, sie sind vorbei,
ja, sie sind vorbei
er umklammert den Fotoapparat in der Tasche
im Talgrund überqueren sie die Straße
hinter der Abzweigung nach Pontey,
doch da, auf der Staatsstraße, vier Lastwagen
kehren von der Razzia zurück
die Gewehrläufe noch heiß
verfluchter Mist
Miló und Mario rennen auf die Häuser von Breil zu
sie rennen, rennen
dann jeder auf eigene Faust
dort ist die Bahnunterführung
weg von den Häusern
Vergeltungsmaßnahmen der Schwarzhemden,
sie brennen nieder, foltern, nehmen Geiseln
bloß weg von den Häusern von Breil!
Miló umklammert die Handgranate in dem Säckchen
das Leinensäckchen hat seine Ida ihm genäht
die Frau, die er mehr liebt als alle anderen Frauen
dort vorn ist die Brücke über die Dora
da ist sie, die Brücke
Miló zieht die Granate heraus
dreht sich zu den Faschisten um und schreit
doch die Garbe trifft ihn ins Gesicht, mitten ins Gesicht
so lassen sie ihn liegen, neben der Dora
das Gesicht voller Blut
nehmen ihm Schuhe, Uhr und Ring ab
ja, auch den Ring, den Ida ihm geschenkt hat
lauf wenigstens du, Mario, lauf, wirf dich ins Heu
die Heugabel des Soldaten kann dich nicht finden
doch jetzt schießen sie erneut
die Musketiere aus den Alpen schießen
schießen auf ein kleines Mädchen
aus einem Haus kommt noch ein Junge
hat die Schüsse gehört, will nachsehen, was los ist
und die Garbe trifft ihn voll:
es ist Vittorio, einer aus dem Valtournenche
ein Partisan von neunzehn Jahren
er war heimgekommen, um die Weiden zu
bewässern.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Heute ist Sonntag, ein Sonntag im April, und in allen Dörfern läuten früh die Glocken zur Messe, die Frauen legen den schwarzen Schleier an, die Heilige Maria vom Schnee verlässt ihre Nische, um dich anzusehen, setzt das Kind, das sie im Arm trägt, auf den Boden und lässt es aus den ersten Blumen eine Girlande winden, sie tritt zu dir und wischt dir das Blut vom Gesicht, und mit ihr kommen nun die Madonnen aus den Nachbardörfern, Notre-Dame des sept douleurs, Notre-Dame de Pitié, Notre-Dame de l’Epine und Notre-Dame de la Guérison mit dem Wundermantel, bald wird hier das Weidenröschen zwischen den Trümmern blühen.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Mario konnte sich retten, tsamba de bouque, das Hinkebein, wollte ihn mit der Heugabel aufspießen, doch er hat sich tief im Heu verkrochen, wie eine Eidechse ist er in den Schober gehuscht und wartet nun auf dich, um nach La Suelvaz zu laufen, wo die Bande dich braucht, damit die Männer losgehen und die Masten in die Luft sprengen können.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Da ist Ida allein, mit der Kleinen auf dem Arm, die noch einmal deine Stimme hören will, und dann machst du für sie den Kuckuck nach, der nun zu rufen beginnt, um dich zu wecken: Ist Sterben wirklich, als erwachte man aus einem tiefen Schlaf? Jeden Tag fliegt eines fort und ein anderes kommt, lass uns nicht allein dem Lied der Dora lauschen.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Jetzt kommt der Pilot Bassanesi mit seinem Eindecker und rettet dich, er nimmt dich mit; er ist in der Schweiz losgeflogen und hat deine Mutter Joséphine-Amérique dabei, die die steinernen Löwen der Place Orientale verlassen hat, um zurückzukehren nach Fénis, wo sie ein junges Mädchen war, sie hat dich schon ziemlich lange nicht mehr gesehen, verstecke dich nicht, steh aus dem Staub auf, Miló, zieh dich um, empfange sie im Sonntagsstaat.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Zeige dein Gesicht noch einmal den Arbeitern von Cogne, die mit glühenden Stahlschlangen aus dem ganzen Tal herkommen, um zu beweisen, dass der Kampf für die Unabhängigkeit nicht nur eine Region betrifft, sondern jeden Einzelnen, so wie du dachtest: Die Unabhängigkeit gilt für jeden von uns, in unserem Leben, wenn es die Ketten abwirft.
Epilog
Parma, 3. März 2009
Ich fahre nach Oltretorrente, um Ida Summer zu besuchen, Milós Witwe. Ich überquere den Ponte di Mezzo. Auf der Wiese am Flussdamm sind noch weiße Schneeflecken, und am Brückengeländer lehnt ein alter Mann und beobachtet ein Nutria, eine Biberratte, die langsam aus dem grünen Wasser kommt, um an Land zu klettern. Plump, das wilde Nutria. Eine fette Ratte. Sie aalt sich im milden Märzlicht, das die Fahrräder auf dem Asphalt quietschen lässt und Umarmungen begünstigt; doch die Frau, der ich auf der Brücke begegne, möchte alle Nutrias nur umbringen. Auf der anderen Seite der Brücke das Denkmal eines Mannes, der seinen aufgebäumten Körper den Beleidigungen der Geschichte darbietet.
In dieser Straße ist der Dichter Renzo Pezzani geboren – hier ist die Gedenktafel –, in einer der Wohnungen über den Kebab-Läden, einem Geschäft, das wertvolles Porzellan verramscht. Ida lebt hier in diesem volkstümlichen, am Samstag stillen Viertel versteckt in einem Altersheim. Niemand kennt ihre Geschichte. Die Pförtnerin schaut in der Liste der Heimbewohner nach, findet aber den Nachnamen Lexert nicht. Die Witwe lebt versteckt.
Doch sie ist da, kommt mir im Trainingsanzug entgegen. Darüber eine zu weite Jacke, dieses Jahr ist der Winter auch in Parma lang. Sie schlief gerade in ihrem Zimmer, entschuldigt sie sich. Leicht wie eine Mücke schwebt sie durch die Gänge. Ich überreiche ihr den Strauß roter Tulpen, und wir setzen uns in einen Aufenthaltsraum, der sich nach und nach belebt: Neben uns stößt eine unförmige Frau stotternd ein paar Schreie aus, eine kleine Mongoloide ist still, eine lange Dünne kann sich nicht auf den Beinen halten. Ich frage nach einer Schere, um die Schleife an den Tulpen aufzuschneiden. Doch eine der verlassenen