Nein, nur Krawall, Pfiffe, fliegende Steine
«Die Soldaten in die Kaserne!»
Ketten versperren den Zugang zum Gemeindesaal
die Menge durchbricht sie, zu Dutzenden stürmen sie
durch die Bresche
die Polizei jagt sie zurück
nur Krawall
bis die Trompete schallt
was hat das zu bedeuten?
«Un coup, visez bas, feu!»
schau diese Unglücksmenschen an, sie knien nieder,
zielen und schießen!
Maschinengewehre und Kriegsmunition!
in die Luft zielen verboten
nach dem Schuss eine tiefe Stille
in der Brasserie des Sports kommen erste Verletzte an
sie werden auf den Billardtisch gelegt
ein alter Mann wiederholt immer wieder
«Sagt es meiner Tochter, sagt es meiner Tochter …»
Erinnerst du dich, Miló? An alles erinnerst du dich, auch an Blanche, deine Gewerkschaftsgenossin: Sie hat ihren Bruder in der Rue de Carouge besucht und sieht nun auf dem Heimweg die Leute auf dem Platz, sie hört, dass es schon zwei Tote gegeben hat. Zuletzt werden es dreizehn Tote sein – darunter auch der Vater eines der Rekruten, die geschossen haben –, von den Verletzten zu schweigen.
Aber die Kaufleute können beruhigt sein, ihre Geschäfte haben überlebt, nur das Schaufenster des Bäckers hat ein Loch, die Feuerwehrleute werden in der Nacht mit einem Wasserschlauch die Blutspuren tilgen, und was soll die junge Blanche anderes tun, als in der Manteltasche die Fäuste zu ballen? Es ist kalt heute Abend in Genf, die Bise treibt die dürren Lindenblätter vor sich her, wer es sich leisten kann, geht ins Capitol in den Film La foule hurle mit Jean Gabin oder ins Central-Sonore, um die Beine der Marlene Dietrich zu bewundern.
In Bochuz denkt Miló wieder an die Szene mit Ramón Novarro und dessen akrobatische Flugkünste in dem Film La flotta del cielo, den er eines Nachmittags im Cinéma Oriental gesehen hat: Draußen schneit es, und Ramón springt hinaus in den Himmel, weil er seine unglückliche Liebe vergessen will, die schöne Sirene, die ins Meerwasser eintaucht. Die Flugzeuge dröhnen, Miló ist Ramón Novarro, er fliegt aus der Zelle davon und erlebt eine Liebesgeschichte mit der Sirene, küsst sie tief und lange.
In der Schwärze der Einsamkeit bevölkert sich die Stille mit Gespenstern, und der Gefangene sieht seine Helden wieder vor sich: Ramón Novarro, Bartolomeo Vanzetti, Nicola Sacco.
Eines Tages erschien auf den Straßen ein Plakat, auf dem stand: Sacco et Vanzetti sont innocents, liberons-les. Die Arbeiter in Genf demonstrierten. Einer von der Gewerkschaft zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche, der die beiden mit Handschellen aneinandergefesselt zeigte: Vanzetti hat einen Schnauzbart, Sacco einen stolzen Blick und eine Fliege. Beide tragen einen Mantel mit Pelzkragen: genau wie der Mantel, den Toto gestohlen hat, der Mantel, der ihn ins Gefängnis gebracht hat. Unter der Fotografie die Worte, die Vanzetti vor dem elektrischen Stromstoß gesagt hat, schwarze Binde über den Augen, Metallring um den kahl rasierten Kopf:
«Hier vor dem Tod wiederhole ich: Ich bin unschuldig. Sicherlich habe ich auch Unrecht begangen, aber ein Verbrechen nie. Ich danke allen, die mit uns gekämpft haben. Ich bin ein unschuldiger Mann, wie auch mein Genosse im Unglück, Sacco, unschuldig war. Ich verzeihe den Menschen, die mir das angetan haben.»
Und dann das im Gefängnis geschriebene Gedicht:
An den Füßen tragen wir Ketten
zur Buße.
In schmutzigen, dunklen Gefängnissen erleiden wir jede Qual
Zur Buße
Doch ihr, ihr da draußen
zerreißt die Ketten, holt uns heraus.
Die Gefängnistür geht auf
und wir hören den Schrei, den einzigen Schrei
Die Welt ist frei – ist frei – ist frei!
An einem dieser Tage hatte Amedeo ihm eine Zeitungsseite mit einer unfassbaren Nachricht mitgebracht:
Heute gegen zwölf Uhr erschien über Mailand plötzlich ein italienisches Flugzeug am Himmel und warf Flugblätter von Giustizia e Libertà ab. Die sprachlose, staunende Bevölkerung las sie mit Freuden. Die Flugblätter fordern zur Rebellion auf, um den Faschismus zu stürzen. Die Polizei griff ein, als das Flugzeug schon wieder aufgestiegen war und am Horizont verschwand.
Es ist ein Samstag im Juli 1930, Miló fantasiert. Zerreißt die Ketten! Dieser Irre ist ein Grundschullehrer aus Aosta: Bassanesi heißt er. Kommt aus dem Aostatal wie seine Mutter, ein Lehrer, ein sturköpfiger Fuchs, der gelernt hat, einen Eindecker zu fliegen. Um Platz für die Stöße von Flugblättern zu schaffen, verzichtet er auf den Fallschirm: zu schwer. Und über dem Domplatz von Mailand werfen Bassanesi und sein Freund die Flugblätter ab, die zur Revolte aufrufen, Tausende und Abertausende rote, grüne und gelbe Vögel flattern am lombardischen Himmel. Genau dann, wenn die Arbeiter und Angestellten aus den Käfigen der Büros und Fabriken kommen, in den Straßen den bunten Vögeln nachlaufen können und die Worte lesen: Revolte! Revolte!
Miló stellt sich vor, er sei sein Landsmann Bassanesi. Er erhebt sich im Flug über den See. Neben ihm in der Kanzel des Farman F200 sitzt seine Mutter Joséphine-Amérique, die aufgehört hat, Zigarren zu rollen. Jetzt überfliegen sie die Savoyer Alpen, der Eindecker verwandelt sich in einen rosa Phönix, der bis nach Fénis fliegt, dort macht er ein akrobatisches Manöver à la Ramón Novarro und setzt seine Mutter auf einer Wiese mit blühenden Weidenröschen ab; dann steigt er wieder auf, kehrt um und holt seine Verlobte Anna, die einen Mantel mit Fuchskragen trägt, aber darunter ist sie eine splitternackte Sirene und singt, wie die Sirenen für Odysseus auf dem Schiff.
4
Zu Beginn des Sommers 1934 verlässt Miló das Zuchthaus und überquert den Großen St. Bernhard; aber ohne Napoleons Berberstute … Innerlich nimmt er die Radtouren an den Ufern des Genfersees mit, das Paradies oberhalb der Veveyse, das Geklimper des Gefängniswärters, der im Vorbeigehen an die Gitterstäbe des Zellenfensters schlägt, Bassanesis Riesenvogel; und jenes Wort, das er nicht vergessen kann: «unerwünscht». Er hat Anna verlassen, die nun ihre Kunden in den Cafés sucht, wo sie sich für wenig Geld verkauft, und in den Nachtlokalen, in denen sie sich als Tänzerin ausgibt; auch sie wird die Strafanstalten kennenlernen. Auch sie wird ausgewiesen werden, unerwünscht.
In Italien strengt Miló sich an. Er lernt Roulette spielen wie die schicken Krawattenträger in Vevey, die er durch die Scheiben sah, wenn er an den Luxushotels vorbeiging. Auch er ist jetzt ein vornehmer Herr. Er fährt einen Balilla und hat stets ein Hündchen dabei, setzt in den Spielcasinos auf Rot und auf Schwarz: Er hat eine Methode entdeckt, die es ihm ermöglicht, zu gewinnen und ein schönes Leben zu führen. Bei Frauen ist er begehrt.
Hier ist er in Venedig. In der Rechten die Zigarette wie ein Geschäftsmann, die Linke in der Tasche des Mantels, den er mit dem Geld vom Roulette gekauft hat: im Hintergrund die Piazza San Marco, Touristen mit Tauben und Fledermaus-Carabinieri. Auf einem anderen Foto ist er in Nizza, mit Clownshose und Clownshut, in einer Gruppe, die von einer Ziehharmonika bei Laune gehalten wird. Im Jahr 1936 löst er das Überlebensproblem in einer Kaserne von Turin, viertes Bersaglieri-Bataillon: Er ist italienischer Staatsbürger und muss seinen Militärdienst ableisten. Der piemontesische Feldwebel begrüßt ihn mit dem Schrei: «Valdustàn patata» …
Nach dem Militär kehrt er zu seinem Onkel nach Aosta zurück. Die Gebirgsstadt empfängt ihn mit rauen Straßen, engen Gassen, Handwerksbetrieben. Auf dem Marktplatz sieht er Bergbauern mit gegerbten Gesichtern, Kinder, die barfuß um Almosen