Miló. Alberto Nessi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alberto Nessi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038550402
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      Früh hatte er den Ungehorsam entdeckt, der Junge. Statt in die Schule zu gehen, sah er den Fischern am Bootssteg zu und betrachtete die in der Metzgerei an Haken aufgehängten Tierleichen. Einmal war er der Straßenbahn mit der Reklame für Suchard-Schokolade in der Rue de Lausanne bis zum Bahnhofsplatz gefolgt, wo die Wagen der Hotels halten, und hatte sich bis zu der großen Aufschrift Hôtel de Vévey vorgewagt. Auf dem Rückweg war er vor dem Pavillon stehengeblieben, wo am 1. August die Fan­fare spielt und lebende Bilder mit der weißgekleideten Mamma Helvetia inszeniert werden.

      Jetzt in der Zelle erscheint ihm vor dem Einschlafen Anny. Mädchen gefallen ihm. Ihre Arme sind weich. Sie lächeln wie das Wasser im Wald: Man hört es fließen, und dann sieht man es, dieses Wasser. So ist es, wenn die Mädchen lächeln. Wenn sie dir in die Augen schauen. Das Wasser glitzert auf den Kieseln im Bachbett der Veveyse, und Anny zieht lächelnd ihre Bluse aus.

      In Bochuz kennt man nach einer Weile die Geschichten aller anderen, wenn man in den Werkstätten oder auf den Feldern arbeitet. Miló sieht sich um: Wer mögen diese Männer sein, die hier hinter Gittern leben? Diese Mäuse in der Falle?

      Der hier ist ein Alkoholiker, den seine Frau betrogen hat, er hat das Haus angezündet und zehn Jahre bekommen. Der dagegen hat mit dem Ordonnanzgewehr geschossen und auf dem Dorfplatz zwei Leute umgebracht. Der andere, der ins Leere starrt, lebte in Lausanne, Rue du Pré, mit drei Brüdern und vier Schwestern, er hat früh angefangen, nachts auszureißen, mit elf Jahren war er schon im Erziehungsheim. Dann ist da noch der Einbrecher, der das Geschäft seines Arbeitgebers ausgeraubt hat.

      Im Zuchthaus hat Miló alle Zeit, sich zu erinnern. Nicht nur an Anny und die Brücke, wo sie sich verabredeten, im Schilf der Veveyse. Er erinnert sich auch an die Ferien in Fénis, die Wiesen, wo die Weidenröschen blühten, an die Füchse, an die Großmutter beim Heuen und beim Kochen von Polenta mit Käse und peilà, an die Sprüche: «Kuckuck, mein Kuckuck, wie viele Jahre gibst du mir noch zu leben?» Einmal hatte er das Schloss besichtigt, und der heilige Christophorus mit dem Kind auf der Schulter hatte sich ihm eingeprägt, auch er wollte ein Heiliger werden. Tja, die Dinge geschehen, damit man sich später daran erinnern kann, bevor sie der Kuckuck holt …

      Die Tage, als er als Maler und Gipser in Genf arbeitete, kommen ihm in den Sinn, die Streifzüge über die Bau­stellen auf der Jagd nach Streikbrechern: Sie verraten die Brüder, wie Judas Jesus Christus verraten hat. Arbeitslose schliefen mal hier, mal dort, in einem Waggon, in einem Keller, in einem Heuschober am Rand der reichen Schweizer Stadt. Vagabunden. In seiner Gruppe gab es viele ritals: So wurden die Italiener genannt. Sie waren in den zwanziger Jahren über den Moncenisio gekommen auf der Flucht vor Mussolini.

      Am Samstagnachmittag teilten sich die militanten Gewerkschafter in Gruppen auf und gingen nachsehen, ob der Feierabend eingehalten wurde. Ein Unternehmer weigert sich, den Kollektivvertrag zu unterschreiben? Dann geht man hin und demoliert die Baustelle, reißt alles wieder ein, hoppla! Und wenn der Vermieter einem Arbeitslosen fristlos kündigt und die Gemeinde ihm ein Rattenloch zur Verfügung stellt, geht man hin und demoliert das Rattenloch. Démolissons les taudis stand auf einem Plakat, das auf den Straßen der Stadt aufgetaucht war. Ein Teil der Gewerkschaft war für die direkte Aktion: Ganz einfach, man steht um fünf Uhr morgens auf, geht die Bruchbuden abreißen und schafft so Arbeit für neuen Wohnungsbau. Haben wir nicht das Recht, anständig zu leben? In Genf standen Tausende von Wohnungen leer, doch wer die Miete nicht zahlen konnte, flog raus. Der Gerichtsvollzieher kam mit seiner gelb-roten Schärpe und begann: «Im Namen des Gesetzes …»

      Einmal, in der Rue Verte, erfand eine Gruppe von Rabauken ein neues Gesetz, das Gesetz der Jungs von Carouge: Man zieht dem Gerichtsdiener ein Leintuch unter den Achseln durch und hängt ihn wie eine Salami ans Fenster. Und ein andermal sperrten sie die flics in den Keller und brachten die Möbel aus den Wohnungen der Gekündigten weg, um zu verhindern, dass der Gerichtsvollzieher mit der Schärpe kommt und sie pfändet.

      In Genf gingen die Streikbrecher in jenen Jahren unter Polizeischutz zur Arbeit und wurden abends bis zum Büro der Christsozialen, die ihre Beschützer waren, zurückbegleitet. Auf der Place du Molard gab es L’Ouvrier du Bois et du Bâtiment und Le Réveil Anarchiste zu kaufen. Manchmal wurden die Zeitungsverkäufer von den Faschisten angegriffen.

      Miló las L’Ouvrier, der jeden Mittwoch herauskam. Ob er registriert war, wusste er nicht. Doch die Militanten standen auf der schwarzen Liste, das wusste er. Es herrschte Arbeitslosigkeit, und die Bosse nutzten es schamlos aus. Sie fragten den Arbeiter:

      «Wie viel verlangst du pro Stunde?»

      «Na ja, ein Franken fünfundfünfzig ist mir recht.»

      «Nein, nein, ich finde für einen Franken Arbeiter, so viel ich will …»

      «Aber wir wollen den Tariflohn. Der Tarif muss eingehalten werden!»

      «Welcher Tarif denn? Nichts zu machen!»

      «Wir haben unsere Gewerkschaft, die verteidigt uns.»

      «Wir pfeifen auf eure Gewerkschaft …»

      Den Franken fünfundfünfzig hatten die Maurer bei dem Streik 1928 erstritten. Miló war gerade neunzehn – er hat früh angefangen, mit Pinsel und Spachtel bewaffnet auf luftigen Gerüsten herumzuklettern. Damals führte Lucien Tronchet die Maurer an, in Samtjacke und schwarzer lavalliere:

      «Die Herrschaften, die sich christlich nennen und mit ihrem Verhalten wegen drei Centimes ihr Paradies verspielen …»

      Er sagte zu den Arbeitern:

      «Lernt euer Handwerk gut. Wenn ihr euch unentbehrlich macht, könnt ihr den Bossen die Stirn bieten.»

      Doch diese setzten die «trockene Guillotine» ein, das heißt, sie vereinbarten, keine Arbeiter zu beschäftigen, die Gewerkschaftsmitglieder waren.

      Milós bester Freund war Amedeo, ein vor dem Faschismus geflüchteter Maurer aus dem Piemont. Arbeitslos geworden, half er hier und da aus, ernährte sich von den Abfällen der Restaurants, manchmal auch von streunenden Katzen. Man nannte ihn «den wandernden Juden». Sie trafen sich oft, und Miló lauschte seinen Geschichten.

      In Genf lebten zu der Zeit mehr als zweitausend Juden, Georges Oltramare hasste sie und hetzte auf den Kundge­bungen gegen die geizigen Besitzer der Kaufhäuser der Stadt: «Die Verantwortlichen für die Oktoberrevolution in Russland sind alle Juden … Sie sind nicht einfach Bürger wie alle anderen, die Juden, sondern Terroristen, Zerstörer der Mittelklasse!»

      Miló war ein junger Fuchs, der allmählich heranwuchs. Er begann zu begreifen, dass die menschliche Gesellschaft auf Lüge gebaut ist. Bei der Arbeit auf den Baustellen hörte er den Gesprächen seiner Kollegen zu; und an einem Novembernachmittag 1932 kommt einer und sagt, sie sollen sich bereithalten, am Abend alle nach Plainpalais zu laufen, um die Union Nationale ein bisschen aufzumischen; die, die mit gestreckter Hand den rechten Arm he­ben.

      «Die sind wie die Nazis», sagen die Arbeiter, «wir gehen hin und hindern sie am Reden!»

      «Sie haben die Banque de Genève in die Pleite getrieben …»

      «Mit unserem Geld spielen sie an der Börse …»

      «Hoch Nicole!»

      «Hoch Dicker!»

      «Gehen wir die Genossen verteidigen!»

      «Bringt Stöcke, Pfeffer und Trillerpfeifen mit!»

      Doch an jenem Novemberabend marschiert vor dem Palais des Expositions das Militär auf:

      Rekruten aus der Infanterieschule

      Jungs aus dem Wallis, der Waadt, dem Jura, aus Genf

      können kaum die Waffen halten

      mit Helm und Gewehr mischen sie sich unter die Menge

      beziehen Prügel von den Arbeitern

      ein paar Gewehre gehen zu Bruch

      es sprechen Nicole und Tronchet

      «Hoch