Sie ging zwischen den Häusern, die in den leuchtenden Aufschriften und den Schmierereien auf den Mauern schlummerten, sie ging geradewegs unter den schwarzen Fenstern der auf allen Etagen verlassenen Büros vorbei, mit leichter Handtasche, mit der Ungeduld der Schlüssel in der Hand und die Augen bereits auf die hohen Räume gerichtet, auf die Pendeluhren, die in dem Haus, das sie erwartete, aufzuziehen waren. Sie hatte nicht mehr weit zu gehen, und die Allee, in die sie einbog, war menschenleer: Die weissen Reklamestreifen über dem Eisenbeton des Palazzo Nuovo wiederholten für sich selbst die Veranstaltungen in der Stadt. Nur die Autos schlüpften frech durch die Nacht und beschleunigten, wenn sie in die Allee einbogen. Zwischen zwei Autos bemerkte sie das träge Fangenspielen zweier zusammengerollter Blätter, hart geworden vom Winter, gehsteigfarben im Widerschein der Laternen. Die Brise war angenehm, mild im Vergleich zu den Graden um die Null, die sie zurückgelassen hatte, dem mit Wasser vermischten Schnee und dem Matsch am Boden.
Sie ging auf der Höhe des Sees und des Friedhofs am Palazzo Nuovo entlang und hielt sich vom Eingang fern, neben den Platanen, wo die Freitreppe, die sanft zu den Portalen des Palazzo hinabführt, eine weite Terrasse öffnet. Ein hinterrücks von einem unmerklichen Hauch neben ihren Schritten aufgewirbeltes Blatt liess sie zusammenzucken.
Da bemerkte sie fast mit geschlossenen Augen, dort an den Glasportalen, noch ohne die Materie zu erkennen und auch nicht den Anlass, der von einem verborgen bleibenden Innern her drücken musste, da sah sie aus den Mündern des Palazzo vielleicht schon seit einigen unvermuteten Augenblicken ruhigen Schaum schluckaufartig austreten. Anfangs zurückfliessend, stockend, zögernd; dann nach und nach lebhaft, sich verbreitend, in Girlanden, in Infloreszenzen des Sees, immer mehr Raum beleckend, still und flach am Boden vordringend, verborgen im Dahinflitzen der Autos, bis zur Erhebung der Stufen. Er gewann jetzt an Festigkeit, überschlug sich und schäumte, ohne zu zerbrechen, ein riesiger Streifen aus tausend Zünglein, mühelos vorgestreckt, um einen natürlichen Ausgang zu finden, indem er im Halbdunkel die Glastüren des Palazzo öffnete.
Es waren Nachtwandler, Zuhörer des Konzerts, Musikliebhaber, Abonnenten der Spielzeit, die in heller Kleidung wie von unter Wasser durch die Glasscheibe des Aquariums hinaustraten, in Paaren oder auch einzeln während der Konzertpause, um sich die Beine zu vertreten, an der frischen Luft eine Zigarette zu rauchen.
Sie blieb stehen, um von der Platane aus, bei der sie stand, zu beobachten, und versuchte, das Weiss der Stolen von dem der Hemden, der Halstücher, der über die Schultern gelegten Mäntel zu unterscheiden; versuchte die Bewegungen, die Rhythmen, die Kräuselungen auszumachen, die, vorgegeben aus dem Innern, die Musik im Saal nachahmen würden. Aber die Bewegungen waren schläfrig, die Schritte gedankenverloren, zeremoniell, ohne Klang: Angefüllt mit Klängen, blieben die Nachtwandler in ihrer ganzen Eleganz in das hohe Wasser versunken, während sie sich im Trockenen befand, vor kurzem erst dem Zug entstiegen. Jemand kam auf sie zu und ging weiter, um die Parkuhr wieder mit Münzen zu füttern oder um sich heimlich davonzustehlen, ohne sich verabschieden zu müssen: Es war der Ingenieur Solmi, oder er sah ihm ähnlich.
Sie erkannte undeutlich die leuchtende Segelfrisur der Rechtsanwältin M., schon damals eine leidenschaftliche Konzertgängerin; einen Augenblick war ihr, als erkenne sie einen nahen Verwandten, seine Glatze glänzte, und er wandte sich einer Frau zu, nicht seiner Frau. Der Verwandte ging zwei Stufen hinunter, um seine Frau zu suchen, auch Gina suchte sie, sah andere sorgfältig frisierte Ehefrauen mit dem Programm in der Hand, aber nicht sie.
Sie hatte die Glastür erreicht und blickte hinein.
Der Architekt M. mit vielleicht seiner Tochter, zwei Kinder Tanzi oder bereits die Kinder der Kinder, die Familie R., vollzählig, Professor P. mit seiner immergleichen Weste, die Schwestern P. von der Garage, verschwägert mit Weine und Spirituosen, Lächeln, Falten, Schmuck; Markenjeans, Uniformen, Hände in der Tasche, Handküsse, Zigaretten, eine weisse und runde Uhr, ein Arm erhoben über die Köpfe, um zum Abschied zu winken, ihr vielleicht, mir, weisse Köpfe, Brillen, Familiennasen, Dior- oder Katarrniesen, Rücken am Erfrischungsstand, Lücken und Nachgerückte, Ablehnungen und Preise, Karrieren, Hochzeiten, Abstimmungen, Sterben und Erben, Geld auf der Bank, Kunst und Scheidungen, Schifffahrtsunternehmen.
Sie war von jenseits des Gotthards gekommen, um sich dabei zu ertappen, wie sie in der Halle des Palazzo, im Blitz einer Pause, Jahre der Abwesenheit, umgekehrte Erinnerungen, erneuerte Generationen erkundete. Bei ihrer Rückkehr würde sie ganz genau bezeugen können, dass die Anwältin M. um zehn Uhr zehn, dass der Ingenieur S., dass ein Lebewohl mit der Hand: etwas anderes als die Verschmutzung des Sees. Eine Überlebende? Sie spürte die Kräuselungen, die Rollbrandung, die Knochen des Sees in sich, auch sie hatte zum Abschied zurückgewunken mit der Hand des Einverständnisses mit ihnen, in angeborener Verschwörung, verschworen geboren.
Aber das Programm des Konzerts? Möglich, dass kein junges Talent das Schmachten der Violinen wiederholte oder die Starrköpfigkeit der Trompeten, möglich, dass keiner die Qual Schuberts, die wehmütige Fröhlichkeit Mozarts nachempfand?
Die Streicher waren sicher schon dabei, Schnörkel in den Saal zu spritzen, im Wettstreit mit den Blasinstrumenten, mit dem Gehuste, mit dem Geräusch derer, die wieder hereinkamen. Die Zuhörer, die Bewohner des Sees schienen tatsächlich von einem inneren Luftstrom verschluckt zu werden, nach und nach verschwanden sie. Sollte auch sie sich anschliessen?
Sie drehte sich um, um nach Hause zu gehen: Die ohrenbetäubende Musik des Radios eines auf der Allee dahinbrausenden offenen Wagens verschluckte das Schweigen des vielleicht jetzt im Saal erhobenen Stabs. Sie hatte keine Ahnung, was der Stab versprach. Aber ihr fiel ein, dass das Mädchen aus dem Heim in seinem prämierten Aufsatz die auf dem Platz treibenden Ästchen «Stäbe» genannt hatte; es hatte die Verbesserung des Lehrers nicht akzeptiert: «Stäbe», hatte die Geriatrieoberschwester mit der gebrochenen Stimme beharrt, ohne Gründe anzuführen, «Stäbe zum Spielen; oder aber Knöchelchen. Knöchelchen des Sees.»
Ein Vater in Arth-Goldau
Mutter und Tochter: Sie schienen einzunicken zwischen den Seiten der Zeitschriften, die sie zu zweit betrachteten auf einer Zugfahrt nach Olten–Basel, berechnet nach Stunden aus den Namen der Seen, an denen wir vorbeifuhren, wie meine eigene Reise, nicht in Minuten. Sie machten auch mich angenehm schläfrig, träge; ich blätterte sie durch wie illustrierte Seiten über den Vierwaldstättersee, in jener kurzen Zeit, ein Auge halb geschlossen, schweissig auch meine Finger.
Ich hatte sie nach der Hälfte des Sees aus dem Speisewagen zurückkommen sehen, mit erhitzten Gesichtern, das gleiche Eisenbahnmenü im Bauch, gleich gross und gleich satt, die kräftigen Haare kurz geschnitten und lang; die Mutter, die die Sandalen ausgezogen hatte, müder, mit tieferem Dekolleté, das die doppelreihige Perlenkette atmen liess; die Tochter in Hosen mit modernem Gürtel, um den Hals den kleinen Goldanhänger aus Kindertagen, noch immer zu leicht und zu unruhig, um sich zwischen der üppigen Fülle und der Bluse wohl zu fühlen.
Sie hatten das Abteil hinter mir auf der Seeseite gewählt, dem meinen schräg gegenüber; sie hatten sich schon mit der Zeitschrift in der Hand gesetzt, und in dem kurzen Dösen, das sie mir gewährten, waren sie – spielte der Zug oder der Schlaf mir einen Streich? – in waagerechten Streifen zu sehen. Der Streifen der Hände, die die Zeitschrift hielten: ruhig die der Mutter, allenfalls bereit, den Griff zu lockern und wieder zuzufassen; unvorhersehbar die der Tochter, schlaff, überraschend deuteten sie auf eine Seite der Zeitschrift, berührten sie, zerrissen sie manchmal sogar, um dann sofort wieder zurückgezogen und an den Fingerspitzen berochen zu werden, Zeitschriftengeruch. Der Streifen der fast gleichen Nasen, die der Mutter widerstandsfähiger, mager, einsam; die andere etwas glänzender, gleichsam in Unordnung durch die Haare, umspielt von den Händen; doch süss, lebhaft, fähig vielleicht zu lecken. Der Streifen der Bäuche war der ruhigste, beständigste: bootsfarben alle beide, in Hose und Rock, stützten sie geduldig die Vertrautheit der Oberkörper, und die Oberkörper streckten sich darauf aus, schaukelten in langsamem Takt.
Die Tochter war reif, ihrerseits eine neue Mutter zu zeugen, die mit der gleichen Gabe eine Tochter zeugen würde, imstande, eine weitere Tochter zu zeugen, blond mit sechzehn, in unaufhörlichem Zeugen.
Wir