No grazie. Anna Felder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Felder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038551355
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jenseits der Scheiben Filippo N. aufzuspüren, öffnet es, um ihn eventuell vorbeigehen zu sehen, wie er mit der schon zum Gruss erhobenen Zeitung vorbeigeht. Der Dampfer fährt weiter, pünktlicher Herr des Weiss, «ciao», sagt Giulio ihm still und sucht im Weiss seine Zeitung, «die englischen Schatten waren für dich.»

      «Für ihn zuallererst», wiederholt er seiner Frau und trägt entschlossen das Filippo N. zugedachte Buch zurück in die Garderobe zu den lebendigen, die bereits auf den Garderobenstühlen bereitliegen.

      «‹Die italienischen Schatten› hab ich bestellt», teilt Giu­lio seiner Frau mit, damit sie Bescheid weiss. «Wenn ich in naher Zukunft in irgendein Schattenreich ohne Rück­kehr aufbrechen sollte, dann hol du sie in der Buchhandlung ab und überleg dir, wem du sie schenkst. Ich hab sie gelesen, das weisst du ja. Aber bis dahin können wir vor­läufig über dein Buch verfügen: In Dünndruckpapier, Luxusausgabe, ich hatte es dir einmal zum Geburtstag geschenkt, oder zu Weihnachten, ich erinnere mich nicht mehr, oder vielleicht nach dem Wolkenbruch, du weisst das besser.»

      «Ein Geschenk von dir, du spinnst wohl, mit dem Datum von dir persönlich hineingeschrieben, das kann man doch nicht weiterverschenken: ein gelesenes und zerlesenes Buch, zerlesen mit lauter Stimme, erinnerst du dich, wie oft du es gelesen hast? Wenn du es verleihen willst, dann verleih es in der Familie, Bettina allenfalls, aber sonst niemandem.»

      «Da du gerade Bettina erwähnst», sagt Giulio besorgt, «für ihren Verlobten haben wir auch noch nichts.»

      «Ihr Verlobter bleibt bis zum 20. Januar in Kanada, kannst du dir vorstellen, wie viele Bücher zum Verschenken sich bis dahin unter den Stühlen anhäufen?»

      «Die sitzenden Schatten für ihn, das wäre doch eine Idee», sagt ihr Mann, sofort begeistert.

      «Vielleicht», beruhigt sie ihn. «Und den Cairolis bringen wir morgen einen schönen Blumenstrauss mit, Rosen und Zweige.»

      «Schicken wir sie ihm gleich», fährt er fort, «dann bekommt er sie Weihnachten in Kanada.»

      «Die Rosen, die Schatten?», fragt sie verwirrt. «Wenn du dich erinnerst, fliegt Bettina am Wochenende zu ihm.»

      «Heisst das, Bettina ist Weihnachten nicht da?», jammert Giulio.

      «An Neujahr kommt sie zurück.»

      Sich überwindend, steht Giulio auf und geht zum Fenster, in Gedanken beim Dampfer.

      «Wenn ichs recht bedenke, war das Buch der Cairolis mit der Arche, den Kindern, den Flüssen und dem Meer für Bettina gedacht.»

      Er nimmt das Paket wieder in die Hände und schleudert es auf den Tisch, bremst es am Ende ab und zeigt mit dem Finger auf die Zeichnungen des Papiers:

      «Auch der Ochse und der Esel waren für Bettina, die Cairolis sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst!»

      «Sie züchten Hunde», erinnert sie ihn; dann, in einer plötzlichen Erleuchtung:

      «Die Cairolis interessieren sich übrigens auch für Gewürze.»

      Giulio dreht sich abrupt um:

      «Ich geh was holen, ich geh gleich in die Buchhandlung. Ein Buch über Gewürze ist kinderleicht zu finden, und in der Libreria Renzi findet die Verkäuferin alles, sie findet die Gewürze mit den Fingern.»

      An der Ecke macht Giulio, bevor er die Buchhandlung betritt, bei der Blumenverkäuferin Halt, um Rosen zu kaufen: nächtliche für die Buchhändlerin Renzi, gesprenkelt mit Sternen. Für seine Frau wählt er die gleichen, aber ergänzt um ein schönes festliches Weiss: ­Margeriten, sagt er, aber es sind Chrysanthemen. Das ­versichert ihm die Blumenverkäuferin, eine Perle von Blumenverkäuferin.

      «Darf ich Sie Margherita nennen», traut sich Giulio sie zu fragen, in seinem Herzen schenkt er ihr bereits ein Buch über Margeriten und Schmuckmotive.

      Die Blumenverkäuferin lässt der Zeit Zeit und antwortet weder ja noch nein, sie begleitet ihn zur Tür und sucht, während sie einen kleinen Stechpalmenzweig abbricht, mit dem Blick die Möwen gegen die Leere des Sees, die schon den Schlaf der Dampfer kennen, die künftigen Wolkenbrüche, die Sirenen des Nils, die Lotosfrucht, die dem, der sie isst, Vergessen schenkt.

      Die Geschichte geht weiter.

      Wenn der Wind schweigt

      Es musste die Summe der bereits gewesenen Winde sein, zuzüglich derer, die durch die Tage und die Jahrhunderte der Generationen hindurch noch kommen würden. Zu datieren nach dem Blatt mit dem Stammbaum seit 1598. Die Seite war ein Geburtstagsgeschenk, der Gefeierte war dabei, sie aufzurollen. Jeder von ihnen beugte sich über das Blatt, erhob sich, um das erste Datum zu lesen, das oben neben den Familiennamen gedruckt war, dem alle in direkter oder indirekter Linie angehörten. Jeder ortete seinen eigenen Namen, unten bereits mit dem eigenen Datum gedruckt; und verstohlen mit den Augen und dem ausgestreckten Finger rasch die Schicksale, die Ja und die Amen hinauffahrend, bemerkte er denselben Namen mit dem Kreuz und dem Datum auf dem einen oder dem anderen Zweig wie ein durch die Jahrhunderte fortklingendes Echo, erstickt jetzt durch die Stimmen eines zu Ende gehenden Banketts und die verrückten Stühle. Derjenige von ihnen, der an diesem Tag Geburtstag feierte, hielt jetzt in den über die Gläser erhobenen Händen die auseinander gefaltete tabakfarbene, grosse, solide und glänzende Rolle, um den Weg inmitten so vieler zusammengekommener Familienmitglieder zu weisen.

      Der Baum stand fest und klar da und präsentierte sich in langen horizontalen Zweigen und vertikalen Sequenzen, aus den Unwettern gerettet an den äussersten Punkten von fortwährend aufs Neue bestätigten Geburten, Hochzeiten und Toden, bar jeden Schmucks mit Ausnahme des gedruckten Zeichens der Kreuze und der verbundenen Trauringe, die bereits schweres Gold gewesen waren, so wie mit schwerem, glänzendem Gold heute ihre wohlriechenden Finger beringt waren, ausgestreckt, um in dem auf dem Blatt wiederholten Namen nie gekannte Existenzen wiederzufinden: Carlo, Maria, Margherita, ­Filippo, Giuseppe, ­Giulia, Söhne und Töchter anderer ­Giuseppes und Filippos und Margheritas, bezeugt zwischen ein paar nüchternen N.N., die in einem grimmigeren Wind verloren gegangen waren, ganz hinauf, wie es ein Wille bis zum ersten im ­Wirbel der Zeiten wiederentdeckten senex diktiert hatte.

      Es musste ein geduldig von Familie zu Familie durch das Schicksal eines jeden im Abstand von Jahrhunderten gelenkter Wind sein, nahe gerückt und stumm gemacht mit dem Verstreichen der Jahre in den Linsen eines Fernrohrs, das bereits ersonnen worden war, bevor das Fernrohr in Holland erfunden und dann nach Italien ge­bracht worden war: 1609: Um sich dem Geist Galileis in Padua zur Kenntnis zu bringen und verbessert und vervollkommnet zu werden.

      Es musste sein, was vom Wind bleibt, wenn auch im Haus das Wüten sich gelegt hat und das Heulen Stille ist: Wenn man ängstlich durchs Fenster die Schrammen betrachtet, die innerhalb eines kurzen Zeitraums hinterlassen wurden. Wir gehen hinaus und öffnen die Augen auf die gezeichneten Orte. Wir blicken zu Boden. Bleiben stehen, zertrampeln, übersteigen unterwegs die vom Wind abgerissenen Hindernisse, das Pfeifen, das allmählich verstummt, zählen die Trümmer in gewaltigen römischen Zahlen: Was stand, finden wir jetzt am Boden liegend, waagerecht: Was unter der Erde verborgen war, sehen wir jetzt an der Luft, entblösst. Wir stossen im Garten auf die Wurzeln der Tanne, an denen noch Erde und Schweiss klebt, über der offenen Grube; wir beugen uns über den niedergerissenen Zwetschgenbaum, den ertragreichsten, neben seinen platt geschlagenen, geplatzten Früchten; wir brechen die schon trockenen Zweige ab, die sich kunterbunt durcheinander zu kreuz- und gabelförmigen Verästelungen verschlungen haben, in gerader und ungerader Zahl wirr durcheinander vor dem Gittertor des Hauses, zum Schweigen gebrachte Launen: der Briefkasten weit offen, leer; der Wäscheständer zerbrochen, der Gartenweg verwüstet von entbeintem Laub, Bruchstücke geschriener, lebendig gewesener Dinge. Dinge, die jetzt, gehorsam wie sie sind, plötzlich bereit sind, schicksalhaft gebündelt, zusammengeharkt, zusammengefegt zu werden vom nächsten Wind und Willen, die sie morgen möglicherweise wieder in deren Nichts, in deren Schweigen zusammenfassen, sie wieder zusammenfügen würden für das Familienfest auf dem Viereck aus schönem Pergament, in ruhiger Geometrie einfacher Namen, um ein gemeinsames Schicksal zu bezeugen.

      Sie feierten den unter ihnen, der den Namen Filippo trug,