No grazie. Anna Felder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Felder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038551355
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Krankheiten und Sympathien, über Reisen, über Geld, über die Torte und über Schulnoten.

      Das Geburtstagsgeschenk in der präzisen Strenge seiner Namen und Zahlen wanderte von Hand zu Hand, die eine mehr, die andere weniger runzlig, vom einen Ende des Tisches zum anderen, gross und gespannt wie ein Segel: mit immer mehr miteinander verflochtenen Geschichten, unterschiedlichen Stimmen, Weisheiten und Unsinnigkeiten sich aufladend, von Lachen, Seufzern, ledigen und verheirateten Hoffnungen durchwoben; von sich aus immer da gewesene Ereignisse mit sich reissend, die sich einfügten, widerhallten, sich wiederholten, wie Biswind und Föhn in den Gesetzen der Zeit sich wiederholen, wie Krieg und Frieden sich wiederholen, Verträge und Zwistigkeiten.

      Es wiederholt sich die Brise, die die Wäsche trocknet, und die Bö, die gestern die Geranien auf der Terrasse abriss, der Sturm, der die gefährdeten Äste in den Fluss schleuderte, der Wind, der Giulios Drachen verschluckte, und der, der den Ausgang des Spiels ins Gegenteil verkehrte, der unverschämte Wind des dahinbrausenden Zugs oder der achtköpfige oben auf dem Turm; der Septemberwind, der Filippos Geburt begünstigte, der Wind, der durch die Tore der Stadt weht, der Wind, der hinterlistig ins Schlafzimmer Geheimnisse bläst und unter die Nägel dringt und die Haut genau heute Nacht reizt, um in einem Augenblick, der sich schweigend einschreibt, die Lieben und die Launen umzukehren.

      Butter geborene Stucki

      Sie hatten geheiratet, aber bereits als Verlobter hatte Marti neben der Braut sitzend im Hause Stucki die Angewohnheit getadelt, beim Abendessen mit dem Brot immer solche Mengen von Butter zu servieren. Jede, enorm dick geschnittene, Scheibe bestrichen die Stuckis hingebungsvoll, jeder auf seinem eigenen Teller, bis an den Rand mit dicken Schichten Butter, die nicht nur die Finger fettig machten. Die jüngere Tochter, bisweilen auch die erwachsenen Töchter einschliesslich der Verlobten be­streuten die gebutterte Scheibe mit Zucker: schönem rationiertem Zucker, man befand sich ja im Krieg. Eltern und Töchter bissen in die Scheibe und gruben dabei jeweils in gestickten Halbmonden die Intimität ihrer Zähne hinein: grausame, miteinander verwandte Zähne.

      Marti, gesittet, mager, lehnte gleich beim ersten Abend­­essen ab: entschieden: Gut erzogen, wie er war, reichte er allenfalls die geriffelte Tafel weiter, ohne sich die Hände fettig zu machen. «Pardon», hustete er auf Französisch schon am ersten Abend, das längliche Tellerchen in der Hand, um es weiterzugeben, und nahm den fremden Schweiss der Butter wahr, Stucki-Schweiss.

      Die Kinder, die Marti und seine Frau nach dem Krieg in die Welt setzten, hielten es teils mit dem Vater, teils mit der Mutter, und als auch für sie der Augenblick kam, sich zu ver­loben und zu heiraten, mussten sie ihrerseits in neuen Häusern, jeder auf seine Weise, für oder gegen neue Butter und neue Geschlechter Partei ergreifen.

      Sie waren nun wieder allein beim Abendessen, Marti und seine Frau: Sie sassen einander gegenüber, die Katze döste neben der Zuckerdose, und zu beiden Seiten des Tisches standen in langer Reihe leere Stühle.

      Marti stellte absichtlich keine Butter auf den Tisch, er rechnete mit der Zerstreutheit seiner Frau; auf Anordnung des Arztes musste verhindert werden, dass sie weiter zunahm. Doch ohne Ausnahme suchte die Dame des Hauses Abend für Abend bei der ersten Scheibe Brot, das Messer erhoben, mit den Augen nach der Butter: Marti wusste Bescheid und eilte sofort in die Küche, entnahm dem Buttervorrat hustend die frischeste Tafel und stellte sie auf den Tisch, wobei er alle Schuld und alle Vergebung auf diese gesegneten hundert Gramm setzte.

      Genusssüchtig stürzte seine Frau sich jeden Abend auf die Butter, bediente sich wiederholt und strich mehrere Schich­­ten auf dieselbe Scheibe, die sie, bereits angebissen, dann grosszügig auch ihrem Mann, auch der Katze anbot.

      «Nein danke», schnappte der Ehemann und ging auf Distanz zum Tisch, während die Katze zutraulich und begeistert zustimmte: Sie leckte das Brot und leckte der Hausfrau die Ringe.

      «Butter ist ungesund», sagte Marti sich immer wieder an jenem schlimmen Abend, an dem er ohne seine Frau ihm gegenüber am Tisch sass und aus alter Gewohnheit mit dem letzten Rest Stimme die ausgepackte Tafel auf dem Tellerchen tadelte; nur die Katze war noch da.

      An dem Tag, an dem schliesslich auch die Katze fehlte, blieb Marti, nur noch Papier und Husten im letzten Amen, dem die Butter immer fremd geblieben und der doch stets ihr Vorbote gewesen war, der Abdruck jener ersten Tafel geborene Stucki lebhaft im Gedächtnis, die in Zukunft zum Abendessen Frau und Katze zu servieren war, in einem Jenseits, das vielleicht gegen jede Butter eine Abneigung hatte.

      Seeknochen

      Den See, nein, sie sah ihn nicht, weil es Abend war, noch nicht Sommer, und das Haus ihrer Kindheit lag nicht zum See hin. Wäre er nicht mehr da gewesen, hätte sie es bereits auf dem Bahnhofsplatz bemerkt, kaum dem Gotthardzug entstiegen: am Lasten der Lücken abwärts, am Herabstürzen der Stufen, am Erschlaffen der Reklamestreifen, die jedoch gebläht waren, um die Veranstaltungen in der Stadt anzukündigen.

      Von der Höhe des Bahnhofs aus kam es ihr nicht einmal in den Sinn, es zu überprüfen, es war ihr nie in den Sinn gekommen. Wie damals, als sie Kinder waren und ganze Wochen verstrichen, vor allem im Winter, ohne dass sie die Anwesenheit des Sees nachprüften, ohne dass sie sich um seinen Gesundheitszustand kümmerten. Dem See ging es jedenfalls gut, dachten sie. Einmal war er bis auf den Platz herausgetreten, und sie waren mit dem Lehrer hingegangen, zu Fuss entlang der Strassenbahn, um ihn zu sehen: Sie hatten ihn diesseits des Rathauses angetroffen, nicht wild, zahm, glattgebügelt von den Trittbrettern, er tändelte durch die Strassen mit Ästchen und Rindenstücken. Sie hatten sich die Schuhe nass gemacht, weil sie sich hineinwagten, um die Tiefe zu messen, und ein Kind hatte einen Katarrgeruch gespürt, alle hatten den Katarrgeruch wahrgenommen. Tags darauf gaben die Lehrer die Aufgabe, in jeder Klasse einen Aufsatz über den aus den Ufern getretenen See zu schreiben, und die Neuheit verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit in die Aufgabe in Schönschrift, mit Tintenklecksen.

      Ein Mädchen aus dem Städtischen Kinderheim, eines im schwarzen Kittel des Heims, wurde für die beste Behandlung des Themas ausgezeichnet: Es wurde eingeladen, den Aufsatz mit seiner misshandelten Stimme vor den Inspektoren, den Lehrern und den Eltern vorzulesen.

      Das Mädchen wurde später Oberschwester in der Geriatrie; Gina traf sie in der Stadt am See, als sie bereits weit weg wohnte. Die Geriatrieschwester arbeitete in der Abteilung des Heims, in der sich schon seit Jahren Ginas Eltern in Pflege befanden: Sie selbst in ihrem blauen Kittel erkannte sie, als sie ihren Namen hörte. Danach waren sie öfter, wenn sie sich auf den Fluren begegneten, stehen geblieben und hatten Neuigkeiten ausgetauscht; mit ihrer rauen Stimme hatte das leitende Mädchen an manchen Sonntagen Ginas Kinder in die Bar des Heims halb heimlich auf eine Eiswaffel eingeladen.

      Jahre später, als Gina von Zeit zu Zeit in die damalige Stadt zurückkehrte, um das leere Haus wiederzusehen und dem Friedhof Grüsse zu bringen, wusste sie, dass sie die Geriatrieschwester an der Bushaltestelle traf: immer ein bisschen in Uniform, am Aufschlag der Jacke eine weisse Uhr, rund wie jene der Schule oder des Krankenhauses. Während der Minuten im Bus sprachen sie über die Arbeit, über die alten Patienten, über die herangewachsenen Kinder. Über den See nicht, natürlich nicht; und doch schien er immer gegenwärtig zwischen ihnen, und wäre er nicht da gewesen, wäre er niemals da gewesen, hätten sie in den wenigen ausgetauschten Sätzen nicht das über die Ufer getretene Wasser, das sie vereinte, unausgesprochen lassen können.

      An diesem Abend ging sie zu Fuss vom Bahnhof hinunter und lief eilig durch die Strassen, die zur Seepromenade führen. Sie wusste sie zu ihrer Rechten und ging weiter, ängstlich darauf bedacht, unbemerkt auch von der Stadt nach Hause zu kommen. Sie begegnete zwei, drei Personen, die um zehn Uhr abends aus dem Haus gegangen waren, um im Zentrum ein wenig frische Luft zu schnappen: Vielleicht Schulkameraden von ihr, die Rechtsanwälte, Hoteliers geworden waren, oder vielleicht private, einsame Gespenster, denen es Vergnügen machte, als Herren in ihren eigenen Häusern umherzulaufen. Sie stellte sich für sich selbst ein ähnliches Sich-zu-Hause-Fühlen vor: die gleiche Natürlichkeit, mit der man die Nüchternheit der Schritte kostet, die Pflasterung unter den Bogengängen vollendet weiss und sich alle Büros leer vorstellt, in den Schaufenstern bereits die Sommermode ausgestellt sieht.

      Morgen würde sie in