Klar, mein Peilsender bewegte sich nicht, während ich mich nur hier auf der Lichtung aufhielt, doch Haru und Melodia würden mich schon nicht verpetzen. Notfalls konnte ich ja behaupten, ich hätte mich mit den Fiorita beraten, wie wir die Schattenbringer finden konnten.
„Jetzt muss ich aber los“, stellte ich fest. „Es ist kurz vor zwölf.“
Unter dem Protest der Animalia lief ich nach Gakuen. Der prächtige Brunnen, an dem ich mich mit Lloyd treffen wollte, lag in der Innenstadt. Auf dem Weg kam ich an meiner alten Schule vorbei, die ich bis zu meinem Wechsel auf die Ranger-Schule besucht hatte. Schlechte Erinnerungen überkamen mich beim Anblick des Gebäudes. Erinnerungen an die Hänseleien, weil meine Augen und Haare so anders aussahen als die der anderen Kinder. Schnell lief ich weiter.
Der Brunnen war ein beliebter Treffpunkt, dementsprechend viele Leute tummelten sich auf dem großen Platz. Kurz blieb mein Blick an den realistisch gearbeiteten Animaliastatuen auf dem Brunnen hängen, dann stach mir ein blauer Mantel ins Auge. Unwillkürlich schmunzelte ich. Lloyd. Selbst im Sommer legte er seinen geliebten Mantel nicht ab.
Ich schlich mich näher an ihn heran, er bemerkte mich nicht. Als ich hinter ihm stand, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um ihm ins Ohr zu flüstern: „Ist dir nicht zu warm?“
Abrupt wirbelte er herum. Seine blauen Augen weiteten sich und er lachte auf. „Hast du mich erschreckt! Ich dachte erst, mich würde gleich ein Ranger verhaften.“
„Muss an meiner Uniform liegen“, kicherte ich. Schließlich war ich als Takuto unterwegs, in voller Montur.
Er umarmte mich fest, was ich nur zu gerne erwiderte. Seine Wärme und sein Duft waren mir ganz vertraut. Im Gegensatz zu sonst küssten wir uns nicht zur Begrüßung. Immerhin lief ich als männlicher Ranger durch die Gegend und wir wollten keine Aufmerksamkeit erregen.
„Gehen wir zur Lichtung?“, schlug ich vor.
Er nickte. „Ist privater.“
Verstohlen musterte ich ihn, als wir uns auf den Weg machten. Sein dunkelbraunes Haar wirkte chaotisch, die dunklen Ringe unter seinen Augen sahen gar nicht gut aus. „Du hast zwei schreckliche Tage hinter dir, oder?“
Überrascht sah er mich an. „Ach ... halb so wild ... nur wenig geschlafen.“
„Du siehst ziemlich fertig aus“, stellte ich besorgt fest. In diesem Moment wirkte er nicht wie 19, sondern viel älter.
„War nicht ganz so einfach abzuhauen“, erzählte er schulterzuckend. „Aber Sebastian deckt mich. Er hat echt was gut bei mir.“
„Sag ihm auch Danke von mir“, bat ich. Endlich verließen wir die Stadt, sodass ich seine Hand nehmen und unsere Finger miteinander verschränken konnte.
„Mach ich“, antwortete er und strich mir über den Handrücken. „Du glaubst gar nicht, wie sehr es nervt, plötzlich wieder die bescheuerten grauen Uniformen tragen zu müssen. Ich hab mich zu sehr ans Dasein als zweiter Boss gewöhnt.“
Kurz musterte ich seine Jeans und das weiße T-Shirt. „Gut, dass du dich vor unserem Treffen noch umgezogen hast. Und entschuldige den Stress.“
Mitten im Wald blieb er stehen und hielt mich zurück. „Bitte, Mia, lass die Entschuldigungen“, seufzte er und zog mich in seine Arme. „Und mach dir keine Sorgen. Das wird wieder.“
Ich schmiegte mich an ihn, den Kopf an seine Schulter gelehnt. „Okay.“
Für einen Augenblick verharrten wir so. Spürten einfach nur die Nähe des anderen. Dann lösten wir die Umarmung.
Lloyd nahm meine Hand und ging weiter. „Setzen wir uns auf die Lichtung.“
Die Animalia des Waldes leisteten uns Gesellschaft, doch sie störten uns nicht. Mein Freund setzte sich in die Wiese und lehnte sich an den alten Baumstamm, ich kuschelte mich an ihn, während er mich von hinten mit den Armen umschloss. Wohlig seufzte ich. Diese Ruhe tat gut.
Vorsichtig zog Lloyd mir das Cap vom Kopf, sodass meine Haare über meine Schultern fielen. „Besser“, lachte er und fuhr mit seinen Fingern durch die losen Strähnen.
„Ach du“, kicherte ich und schloss die Augen, während ich seine freie Hand fest in meiner hielt. „Wie viel Zeit hast du eigentlich? Kannst du bis heute Abend bleiben?“
„Leider nicht“, antwortete er. „Ich hab Sebastian versprochen, dass ich um halb vier zurück bin.“
„Schade“, murmelte ich.
Lloyd legte nun seinen zweiten Arm wieder um mich und drückte mich sanft. „Wir werden uns bald wiedertreffen. Versprochen.“
„Und wenn mein Vater dich festhält? Wenn er herausfindet, dass wir uns treffen?“, wandte ich ein und drehte mich zu ihm um. „Ich will nicht, dass dir was passiert!“
„Allein darum würde er mir nichts tun“, lachte er. „Einerseits würdest du ihn dann ... tja ... noch mehr hassen, andererseits hätte er ein großes Problem, weil meine Eltern so gut mit deinen befreundet sind.“
Es stimmte, Fiona und Nico Sakai waren enge Freunde meiner Eltern. Deswegen hatten Lloyd und ich uns überhaupt erst näher kennengelernt.
Langsam nickte ich. „Du hast recht. Hoffentlich hält ihn das zurück.“
Wir lächelten uns an. Ohne ein weiteres Wort, wie von selbst kamen wir uns näher, bis sich unsere Lippen berührten. Plötzlich war alles wie vor ein paar Wochen. Wie zu der Zeit, als außer Lloyd niemand von meinen Fähigkeiten gewusst hatte. Es war wie bei unserem heimlichen Date in Windfeld, als uns Ulrich und Jakob erwischt hatten. Ich schloss die Augen und versank in dem warmen, wunderschönen Gefühl des Kusses. Viel zu früh lösten wir uns voneinander. Lloyd umarmte mich fest und auch ich legte meine Arme um seinen Hals. Mein Freund mochte furchtbar erschöpft aussehen, doch in diesem Moment wirkte auch er glücklich.
„Bevor ich’s vergesse, hier sind deine Sachen“, fiel ihm ein und er reichte mir eine Tüte. „Schuhe, Klamotten und das Liedblatt.“
„Danke. Ich hab meine alten Treter schon richtig vermisst“, lachte ich. „Hier sind deine Sportsachen.“
Er strich mir durchs offene Haar. „Ebenfalls danke.“
Kurz zögerte ich, doch schließlich konnte ich die Frage, die mich seit gestern Abend quälte, nicht mehr zurückhalten. „Warum hast du eigentlich bei unserem Telefonat so abfällig über die Schattenbringer geredet?“
„Nicht so wichtig“, winkte er schnell ab. „Wollen wir was essen gehen?“ Es kostete mich viel Mühe, ihn nicht weiterhin mit diesem Thema zu nerven. Doch er hatte meinetwegen genug durchgemacht. Wenn er nicht darüber reden wollte, würde ich ihn nicht zwingen.
„Sicher, dass du öffentlich essen gehen willst?“, erkundigte ich mich stattdessen. „Nach dir wird gefahndet.“
Er grinste. „Aber ich hab einen Ranger dabei. Da wird wohl kaum jemand misstrauisch werden.“
Ich griff nach meinem Cap und versteckte meine Haare darunter. „Gutes Argument. Ich bin die perfekte Tarnung.“
Lloyd stand auf und reichte mir eine Hand. „Ganz genau.“ Ich ließ mich von ihm auf die Beine ziehen. Bevor wir uns in Bewegung setzten, umarmte er mich noch mal fest. „Wobei ich mir wünschte, wir könnten ohne Tarnung ausgehen.“
Halbherzig lächelte ich. „Keine Chance. Meine Haare sind zu auffällig. Die haben beim letzten Date schon dafür gesorgt, dass uns die Ranger verfolgen.“
„Immerhin können wir uns überhaupt sehen“, entgegnete er und nahm meine Hand, um mit mir in Richtung Gakuen zurückzuspazieren.
„Ich stehe übrigens nicht mehr so sehr unter Verdacht, mit den Schattenbringern