Sie erreichten das Ende des schmucklosen Ganges. In der Wand war ein Rahmen eingepasst, daneben befand sich eine Fläche aus gewölbtem Bernstein. Kastoel berührte einen davon. Im Rahmen entstand ein kurzes Wabern, dann etablierte sich ein Durchgang. Wie eine hauchdünne, durchsichtige Wasserfläche sah er aus.
Kastoel trat hindurch.
Kevin folgte.
Vor ihm stand der Höchste Magier von Nordamerika, den er nur allzu gut kannte.
4. Der Höchste Magier
Chris«, sagte Kevin.
Sein Bruder war eindeutig wieder am Leben. Im Gegensatz zu Kastoel rannte er nicht mit nacktem Oberkörper herum, sondern trug einen Anzug. Einen Anzug! Die Schultern darunter verdeutlichten, dass er noch immer gerne trainierte. An seiner linken Hand prangte eine Art von Siegelring.
Das Ziel der Türpassage war ein Penthouse, hoch oben über New York. Die Skyline der Stadt unterschied sich kaum von jener der alten Gegenwart, sah man davon ab, dass hier und da Magier vorbeiflogen.
Chris kam langsam näher. »Du siehst tatsächlich aus wie er.«
In einem Reflex riss Kevin ihn in eine Umarmung. »Ich habe dich vermisst.«
Kastoel, der ein wenig seitlich stand, setzte zum Sprung an, doch eine Handbewegung von Chris hielt ihn zurück.
»Sorry, ein Reflex.« Kevin brachte wieder Abstand zwischen sich und seinen Bruder.
Er musste sich vergegenwärtigen, dass dieser Chris ihn nicht kannte. Irgendwo dort draußen lief ein zweiter Kevin herum. Hatten die beiden möglicherweise einen Streit?
Sein Bruder besaß einen akkuraten Kurzhaarschnitt, die Finger waren manikürt, die Haut war seidig glatt. Er wirkte wie eine Model-Katalog-Version von Chris.
»Du tätest gut daran, solcher Art von Reflexen erst einmal nicht nachzugeben«, sagte Chris. »Gegenüber einem Höchsten Magier kommt das nicht gut.«
»Richtig, du hast ja Karriere gemacht.« Kevin räusperte sich. »Sorry. Du bist hier wohl so etwas wie der Bürgermeister der Magier?«
Kastoel starrte ihn an, als habe dieser gerade Gott selbst beleidigt. Der Scheiterhaufen schien bereits zu brennen.
»Das wäre eine Art der Interpretation«, sagte Chris langsam. »Aber erzähl doch etwas von dir. Wie bist du hierhergelangt? Plötzlich lagen du und diese andere Person vor dem Gebäude. Es war Glück, dass ich informiert wurde.«
»Oh, das ist Artus«, sagte Kevin. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Ein Heiler sollte sich um ihn kümmern.«
»Artus.« In Chris’ Stimme mischte sich ein Hauch von Unglauben. »Der Artus, der damals eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung des Walls gespielt hat?«
»Irgendwie schon«, sagte Kevin.
Chris warf Kastoel einen beunruhigten Blick zu. »Überprüfe das, wenn wir hier fertig sind.«
Kastoels Gesicht war bleich geworden. »Sehr wohl.«
»Er ist nicht wirklich gefährlich«, sagte Kevin. »Nur möglicherweise etwas wütend. Aber das ist eine lange Geschichte.«
»Zweifellos.« Chris sank auf die Platte seines Schreibtisches. »Gut, dass ich meinen Terminkalender von allen Verpflichtungen befreit habe. Du kannst also berichten.«
Zwei Blicke taxierten ihn.
Mit einem Mal fühlte Kevin sich unwohl. Die Euphorie darüber, Chris wiederzusehen, hatte ihn jede Vorsicht vergessen lassen. Doch die Reaktion seines Bruders ging über Neugierde hinaus.
»Vielleicht später«, sagte er testweise.
»Jetzt«, beharrte Chris.
»Und wenn ich mich weigere?«
Kastoel lachte auf. »Ja bitte.«
Ein scharfer Blick von Chris ließ ihn verstummen. »Ich denke, wir müssen ein paar Dinge klarstellen, um unseren Dialog in Gang zu bringen. Vor exakt sieben Jahren ist mein Bruder – Kevin Grant – gestorben. Du verstehst also zweifellos, dass ich misstrauisch bin. Wenn du natürlich der echte Kevin bist, möchte ich wissen, wie du überlebt hast. Hat dich der Zwillingsfluch irgendwie gerettet?«
Kevin nickte müde. »Das ergibt Sinn. Ursprünglich warst du es, der gestorben ist. Als das geschah, erlosch der Zwillingsfluch.«
Zuvor hatten er und sein Bruder sich ihr Sigil geteilt, was durchaus zu Problemen geführt hatte. Doch nach dem Tod von Chris war der Zwillingsfluch gewichen, ebenso das Sigil gänzlich seines geworden.
»Also kein Zwillingsfluch«, sagte Chris mit der Andeutung eines Lächelns. »Ich musste auf Nummer sicher gehen. Nach dem Tod von Kevin gehört mein Sigil ebenfalls wieder mir und der Fluch ist bezwungen. Auf keinen Fall gehe ich eine solche Bindung erneut ein oder lasse zu, dass sie entsteht. Schließlich habe ich Kevin genau deshalb umgebracht.«
Bevor Kevin die Worte richtig deuten konnte, lag eine Pistole in der Hand seines Bruders. Der Anblick war so ungewohnt, so abstrus, dass er nicht reagierte. Exakt drei Schüsse erklangen. Stechender Schmerz durchdrang seine Brust, er kippte hintenüber.
»Er hing der Lehre von Gleichheit zwischen Nimags und Magiern an. Das war inakzeptabel.« Chris ging neben Kevin in die Knie. »Ich spüre tatsächlich nichts. Keine Verbindung, keine rasende Wut. Und du scheinst auch gänzlich vom Fluch befreit.«
»W… warum?«, presste Kevin hervor.
»Ich habe keine Ahnung, wie du entstanden bist«, sagte Chris. »Ein Zeitecho, irgendeine Magie, Wiederbelebung durch Störer. Aber es interessiert mich auch nicht. Australien wird zum Problem und ein Hohes Haus von London entwickelt sich interessant. Das könnte die Machtverhältnisse verändern. Daher darf niemand Schwäche bei mir sehen.«
Kevins Glieder waren kraftlos, seine Muskeln reagierten nicht. Er wollte Essenz aufgreifen, um eine Heilung einzuleiten, doch das Sigil verblasste.
»Die Kugeln sind magisch«, erklärte Chris. »Dein Sigil schläft jetzt ein wenig und du blutest erst einmal aus.«
»Sollen wir ihn auf einem der Nimag-Felder verscharren?«, fragte Kastoel.
Chris schürzte die Lippen und schlenderte langsam zu seinem Schreibtisch. Dort verstaute er die Pistole in einer Schublade. »Sein Sigil ist stark. In der aktuellen Lage wäre das eine Verschwendung, denn wir benötigen jeden Magier.«
Kastoel lächelte auf boshafte Art zufrieden. »Dann also die Mauer?«
Chris nickte. »Schick ihn mit dem nächsten Flug dorthin. Auf diese Art kann er der magischen Gesellschaft noch von Nutzen sein, bis nur mehr seine Hülle übrig ist.«
Kevin versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, doch ohne das notwendige Wissen über diese neue Gegenwart ergaben sie schlicht keinen Sinn. Panisch griff er nach dem Sigil, aber es war, wie Chris gesagt hatte: Es schlief. Kevin hatte nicht einmal gewusst, dass so etwas möglich war. Einkapselung, das ja. Aber schlafen?
Sein Körper wurde immer schwächer, das Blut unter ihm bildete eine klebrige Lache. Er lag hier und starb, während die beiden sich in aller Ruhe unterhielten.
Kevin bäumte sich mit letzter Kraft auf, sackte jedoch sofort wieder zu Boden. Er hatte alles getan, um seinen Bruder zurückzuholen. Vorbei an seinen Freunden hatte er unzählige Male in die Geschichte eingegriffen, hatte den Wall vernichtet, Merlin von der Machtergreifung abgehalten. Alles für Chris. Das Schicksal erlaubte sich einen grausamen Scherz. Sein Bruder war zurück, aber als dunkles Abziehbild seiner selbst. Eines, das Kevin erschaffen hatte. Eines, das niemals rückgängig gemacht werden konnte.
Excalibur war vernichtet,