Luzidität im Sinne des Buddha bedeutet, unser eigenes Denken und all unsere Erfahrungen als von der Natur eines Traums zu erkennen und zu meistern. Gelingt es uns, beides, Gelassenheit und Luzidität, zu kultivieren, so können wir die Ursachen des Leids in uns – also Unwissenheit und Unachtsamkeit, Anhaften und Aversion – beseitigen, und die Ursachen des Glücks heute und in der Zukunft werden dadurch vermehrt. Alle Erscheinungen können uns dann zum Freund und Lehrer und zum willkommenen Anlass eines immer neuen und frischen Erkennens des Wesentlichen werden.
Durch die Betrachtung des Vergänglichen erkennen wir das Unvergängliche. Wenn wir den Tod oder die Auflösung der Formen nicht mehr als Ende des Erlebens, sondern als seine Transformation verstehen, so schwindet alle Angst vor Veränderung, und es wird möglich, jeden Augenblick unseres Lebens und Sterbens mit Achtsamkeit und Wertschätzung zu genießen.
Im frühen Buddhismus des »Theravada« besteht die Hauptübung des Meditierenden darin, Körper, Atmung und Geist, ohne zu urteilen, direkt zu beobachten und so der Vergänglichkeit aller Phänomene gewahr zu werden. Durch diese unmittelbare Beobachtung kann man zur zweifelsfreien persönlichen Erkenntnis kommen, dass weder der »Wahr-Nehmende« noch das »Wahr-Genommene« eine bleibende, selbstständige Existenz besitzen.
Alles Lebendige fließt als ein Strom fortwährender Wandlungen, und keiner dieser Augenblicke ist genau so wiederholbar. Vom Feinsten bis zum Gröbsten können wir ein ständiges Werden und »Entwerden« in uns selbst und unserer Umgebung beobachten, und tatsächlich ist Vergänglichkeit das einzig bleibende und gemeinsame, direkt beobachtbare Charakteristikum all unserer sonst so verschiedenen Erfahrungen. Nichts ist so beständig wie der Wandel. Weil alles an uns, in uns und um uns herum vergänglich ist, sind wir im Grunde von Anfang an erlöst – aber wir wollen die Vergänglichkeit und damit unser Erlöstsein nicht wahrhaben. Wir wollen nicht vergänglich sein.
Ein Buddha aber ist völlig vergänglich, fließend und selbstlos. Er ist frei vom Größenwahn und frei vom Minderwertigkeitskomplex des Ich-Bewusstseins, denn er verweilt in nichts.
»So wie Eis nur Wasser ist, sind die Menschen in ihrem wahren Wesen Buddha«, lehrte Hakuin in seinem Gesang des Zen.
Nun ist ein ständiges Erfassen, Begreifen und Einordnen die natürliche Funktion unseres Denkbewusstseins, doch das Denken oder der Verstand kann seiner Art nach die ungreifbare Wirklichkeit nicht erfassen, sondern nur seine eigenen Konzepte, Abstraktionen und Deutungen des Erlebten festhalten, obwohl alle unsere Bewusstseinszustände und alle Erscheinungen vergänglich sind und unser Erleben genau besehen ein ständiges Sterben und Geborenwerden ist – denn was auch immer erscheint, es verschwindet quasi im selben Augenblick wieder, nur um neuer Erscheinung Raum zu geben.
Wir erfahren ein kontinuierliches Schwingen zwischen Form und Formlosigkeit, und doch erscheinen Leben und Sterben unserem dichotomischen Denken als unversöhnliche Gegensätze; und an dem einen haftend, fürchten wir das andere. An dem einen festhaltend, entgeht uns das andere. »Sein oder Nichtsein?«, fragt unser Bewusstsein, denn die übergegensätzliche Einheit von Wahrnehmung und Leerheit kann es nicht erfassen. Seine Funktion ist es, die Dinge auseinanderzuhalten und einzuordnen. Das Bewusstsein lebt in seiner eigenen virtuellen Welt von Namen und Vorstellungen und hält an seinen reduktionistischen und einseitigen Überzeugungen und Begriffen als empirische Wirklichkeit fest.
Hier liegt also eine grundlegende Verwechslung vor, die weitreichende negative Folgen hat, denn wenn die Prämisse falsch ist, sind auch die daraus gezogenen Schlüsse falsch. Daraus ergibt sich eine Kette von Fehlwahrnehmungen. Das denkende Bewusstsein lebt in einem Traum von Fassbarkeit und Pseudowissen, der zwar mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, aber sprachlich und gedanklich von der Mehrheit der Menschen immer wieder formuliert und als gemeinsames Erleben geteilt wird. Die Glaubenssätze oder geistig-seelischen Konstrukte einer Person sind deshalb auch immer kontextuell in der Verbindung mit seiner Familie und Gesellschaft zu untersuchen, um ihre Textur zu verstehen und sie, falls nötig, lösen zu können.
Je mehr wir an Formen und am Körper haften und uns mit diesen identifizieren, umso mehr fliehen und verabscheuen wir deren Auflösung, als ob es unsere eigene wäre. Dasselbe gilt auch für das Selbstbild und für alles, was unser Bewusstsein als Bleibendes fixiert und »verbegrifflicht«.
Unsere Anhaftungen trüben unseren Blick und verhindern die unmittelbare Schau des Gegebenen, und deshalb definierte Sokrates, genauso wie christliche, buddhistische, hinduistische und taoistische Meister, das philosophische Leben, das Leben eines Menschen, der die Wahrheit liebt und ihr gemäß leben möchte als ein ständiges Sterben, ein ständiges Loslassen, das ihn schließlich von aller Bindung und Beschränkung des Körpers und des Geistes befreien wird, wenn er in einem Vergessen alles Geschaffenen sich selbst schließlich ganz der göttliche Weisheit überlässt.
Sokrates antwortete der unfassbaren Natur der Wirklichkeit entsprechend, indem er sagte: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«
Es ist erfreulich und ein gutes Zeichen, dass seit einiger Zeit überall auf der Welt und vor allem in den nun seit Langem von einer positivistischen und materialistischen Sichtweise in Philosophie und Wissenschaft geprägten westlichen Gesellschaften parallel zu den beschriebenen Entwicklungen aber auch eine Fülle von Büchern über Tod, Sterbebegleitung und verwandte Themen erschienen sind und erscheinen. Ein starkes Interesse an Spiritualität und authentischer Selbsterkenntnis ist im Menschheitsbewusstsein entstanden und findet seine Antwort in einer Fülle von Publikationen, die die Weisheitslehren der verschiedensten Traditionen zugänglich machen. Die Bandbreite reicht hier von esoterischen Privatoffenbarungen und Lebensratgebern für »Glückssucher« bis hin zu klassischen Texten der Weisheitsliteratur der Welt und höchsten Belehrungen und Schriften bis heute ungebrochener Übertragungslinien vom Meister auf den Schüler, wie wir sie vor allem im tibetischen Buddhismus finden. Dieser hat mit seiner großen Wertschätzung der schriftlichen und mündlichen Überlieferung die weltweit umfangreichste Literatur über buddhistische Psychologie, ihre Therapien und Meditationstechniken und über Thanatologie (das Wissen vom Sterben und vom Tod) bewahrt und hervorgebracht. Die darin gelehrten Anweisungen werden auch heute noch weitergegeben und präzise in der persönlichen Geistesschulung und in der Sterbebegleitung angewendet.
Selbst seit über vier Jahrzehnten in der Nachfolge von tibetischen Meistern des Mahamudra und des Dzogchen stehend, bin ich voll Dankbarkeit für die unschätzbaren Lehren, die ich von ihnen erhalten habe. Dasselbe gilt natürlich auch für meine Lehrer im Zen-Buddhismus und im Theravada. (In den Literaturhinweisen im Anhang dieses Buches findet sich eine Auswahl von Büchern, die ich zu einem weiteren Studium empfehlen kann.)
Wenn ich in den Kapiteln dieses Buches über Leben und Sterben, über Bindung und Erlösung, über Zeitgeist und Erleuchtungsgeist, über Irrtum und Wahrheit, über Körper, Psyche und Geist, über Luzidität und Unbewusstheit, über heilsame und unheilsame Manifestationen des Denkens, über Leid erzeugendes und von Leiden befreiendes Handeln spreche, so tue ich das im Gewahrsein der buddhistischen Lehre, dass alles Erkennen, Denken und Benennen der Traum des Geistes ist.
Insofern es Traum ist, ist all unser Erleben auch symbolisch, weil das Denken und Sinnen des Geistes sich als Wort, Gestalt und Situation darin zum Ausdruck bringt und sich, ganz seiner Artung und Qualität entsprechend, dabei verortet und versinnbildlicht. So ist ein jeder Seinsbereich, wie zum Beispiel die Menschenwelt, die karmische Vision der dort lebenden Wesen und wird durch ihr kollektives Denken, ihre Emotionen und Wünsche verändert und geformt. Ein jeder Geist erträumt sich seine Welt und ist, falls er mit Verstand begabt ist, mit der Deutung des Erlebten beschäftigt. Nun ist die Deutung mit dem Erlebten natürlich nicht identisch,