Weshalb war man beispielsweise bei einer einfachen Pizzeria kleinlicher und hat die Lizenz zum Aufstellen von Tischen und Sitzen nur erteilt, wenn eine Toilette nachgewiesen werden konnte?
Ist es vielleicht die Größenordnung? Ist es womöglich die Sichtbarkeit? Oder ist es vielmehr eine gesellschaftliche Meinungsprägung größten Ausmaßes, die ihren Ursprung in der gedanklichen Trennung der Kernspaltung in eine ›böse‹ Technologie in Form der Atombombe und eine vermeintlich ›gute‹ in Form der ›zivilen Nutzung‹ dieser Energie hatte?
Tatsächlich sind wir heute, trotz einer weltumspannenden kritischen Anti-AKW-Bewegung, nicht viel weiter. Denn trotz ungeklärter Entsorgung des radioaktiven Abfalls werden neue AKWs geplant, auch in der Europäischen Union.
Und es stellt sich die weitere Frage: Weshalb werden heute noch die meisten der damals entstandenen Folgekosten den Unternehmen abgenommen, auch den profitablen, und der Bevölkerung aufgebürdet? Und weshalb wird es zugelassen, dass die Folgen für Millionen von Jahren unseren Nachkommen zur Last fallen? Und warum soll das nicht kriminell sein?
Wie lange dürfen japanische Unternehmen hochgiftiges Plutonium in den Pazifik leiten?
Weshalb dürfen von Lingen aus immer noch deutsche Kernbrennstäbe an ausländische AKWs (darunter auch Japan) exportiert werden?
Diesem Problem hat auch BCC in seinem Heft BIG Business Crime einen größeren Artikel gewidmet:
»Das unbewältigte Erbe von gerade mal einem halben Jahrhundert Stromproduktion bedroht und belastet die nächsten 330.000 Generationen. Kein Druckfehler. 330.000 Generationen, das sind über acht Millionen Jahre. Man kann sich kaum ausmalen, wie sehr Milliarden von Nachkommen unsere Generation wegen dieser tödlichen Hinterlassenschaft verfluchen werden.«10
Noch erstaunlicher sei allerdings, dass es Politik und Wirtschaft seit Jahrzehnten gelungen sei, dem Volk zu suggerieren, die Atomtechnik sei eine sichere und beherrschbare. Aus Schwarz einfach Weiß zu machen sei eine Form der Manipulation, die durchaus zum Instrumentarium der Wirtschaftskriminalität gezählt werden dürfe.
Umwelt und Umweltverbrechen wurden von BCC auch in weiteren Beiträgen beleuchtet. Denn etwa in der Abfallwirtschaft haben sich das Organisierte Verbrechen und die legale Wirtschaft immer schon überschnitten.
Und bezeichnenderweise spielt auch das große Schweigen in einem Beitrag von Eckhardt Momber in BIG Business Crime 1/2017 eine zentrale Rolle, wenn er am Schluss auf die Frage, was das Wichtigste auf seiner Reise nach Fukushima war, bemerkt:
»Zweierlei, erstens die bedrohliche Unsichtbarkeit der Radioaktivität und zweitens das mehrheitliche Schweigen im Wissen darüber in einem Land, in dem es nun schon zum dritten Mal zu einer atomaren Explosion gekommen war.«11
Nicht ohne Grund ist Omertà (die Schweigepflicht) ein Prinzip der Mafia und anderer krimineller Organisationen.
Stellvertretend für das Abfallproblem sei hier nachfolgend der ganz aktuell im Frühjahr 2021 in die Öffentlichkeit gelangte Fall der Laugenentsorgung zulasten von Flüssen und Trinkwasser durch K+S12 geschildert und analysiert, weil er alle typischen Merkmale von Unternehmenspolitik in ihrem Verhältnis zu Staat und Kommunen aufweist.
Versalzung von Flüssen, Flächen und Trinkwasser – die Rolle von Unternehmen und Staat
»Mehr als zehn Jahre hatte die Staatsanwaltschaft in Meiningen in Thüringen ermittelt wie es passieren konnte, dass der Kalikonzern K+S an der hessisch-thüringischen Grenze seine Salzlauge in den Untergrund versenken und damit auch Gewässer verunreinigen konnte.«
Mit diesen Worten beginnt die abendliche Hessenschau des Hessischen Rundfunks am 5. Mai 2021 ihre Berichterstattung über ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren, das – für manche überraschend – eingestellt wurde. Und die Frankfurter Rundschau titelt am selben Tag: Werra-Versalzung: Ein Krimi aus der Hand eines Staatsanwalts.
Die betroffenen hessischen Behörden bis hin zum hessischen Umweltministerium reagieren abwehrend, noch schärfer die K+S AG. Was war geschehen?
Ein hessischer Polit-Krimi?
Ein weiterer Umweltskandal?
Oder: Die Kapitulation eines Umweltministeriums vor dem weltgrößten Salzproduzenten?
Solche Fragen wirft ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren auf, obwohl und weil es eingestellt werden musste, da die derzeitige Rechtslage Verurteilungen nicht zulässt.
Man muss dem ermittelnden Staatsanwalt aus Meiningen dankbar sein für seine 10-jährige Aufklärungsarbeit13, denn bisher wurden massive und lang wirkende Umweltschäden – ausgerechnet bei dem immer knapper werdenden sauberen Trinkwasser – anscheinend billigend in Kauf genommen, um Arbeitsplätze und nicht zuletzt Gewinne zu halten; und das zu großen Teilen sogar unter Aufsicht eines grünen hessischen Umweltministeriums mit teilweise prominenter Besetzung.
Man muss allerdings zugutehalten, dass es sich bei K+S nicht um irgendein Unternehmen handelt, sondern um den Weltmarktführer unter den Salzproduzenten. Und man darf den Gewöhnungseffekt nicht unterschlagen, der auch dadurch bedingt ist, dass die Versenkung von Salzlauge in den Untergrund bereits Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts begonnen wurde und negative Erscheinungen in Bezug auf das Trinkwassers zu Beginn der 40er Jahre dann in Erscheinung traten. Auch ich habe – wie schon geschildert – erlebt, wie es in den 50er Jahren hingenommen wurde, dass etwa eine Färberei den örtlichen Fluss regelmäßig in die unterschiedlichsten Farben tauchen durfte.
Allerdings: Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2021, und das Bundesverfassungsgericht kassiert aufgrund von Verfassungsbeschwerden das 2019 vom Bundestag verabschiedete deutsche Klimaschutzgesetz.
Und auch in Bezug auf das Ermittlungsverfahren zur Salzlaugenversenkung und -einleitung in Flüsse waren die heutigen Erkenntnisse nicht neu.
Aber der Reihe nach–im Folgenden referiert nach dem Schreiben der Staatsanwaltschaft Meiningen vom 13.4.2021, das 27 Seiten umfasst und an die Werra-Weser-Anrainerkonferenz e.V. gerichtet ist, die Strafanzeige gestellt hatte:
Die Laugenversenkung in den Plattendolomit hat eine erhebliche Druckerhöhung in dieser Formation zur Folge, die sich auch nach einem Ende der Versenkung nur langsam abbaut.
Der durch den Salzaufstieg notwendigerweise als Transit- und Zirkulationsraum fungierende Buntsandstein-Grundwasserleiter bildet aber zugleich auch das Hauptreservoir für die Trinkwassergewinnung.
In diesen Bereichen mussten in den vergangenen Jahrzehnten Trinkwasserbrunnen wegen zunehmender Versalzung sukzessive stillgelegt, saniert oder in ihrer Förderung gedrosselt werden, um ein Vordringen von Salzwasser in den Förderstrom zu vermeiden.
Die Beeinträchtigung potentiell nutzbaren Trinkwassers durch die Laugenversenkung wurde durch ein im November 2016 fertiggestelltes 3D-Grundwassermodell der Firma Kali und Salz erstmals quantifiziert.
Nach den vorgelegten Berechnungen hat der vorgenannte Wirkmechanismus der Versenkung zur Folge, dass bis zum Jahr 2060 Trinkwasservorkommen im Volumen von 85 Millionen Kubikmetern zusätzlich über den für die Trinkwassernutzung maßgeblichen Chlorid-Schwellenwert von 250 mg/l hinaus versalzen werden im Vergleich zu einem Szenario, wonach die Versenkung im Jahr 2016 endet. Dabei geht das Grundwassermodell, wie die Ermittlungen ergaben, von geologischen Ausgangsparametern aus, die zu erheblicher Überschätzung der im Plattendolomit deponierten Abwassermengen führen und entsprechend zu einer Unterschätzung der Beeinflussung des Buntsandstein-Grundwasserleiters mit dem zur Trinkwassergewinnung genutzten Wasserhaushalt. Daher kann den Berechnungsergebnissen des Grundwassermodells auf jeden Fall analog entnommen werden, dass auch die Versenkung aufgrund der zuvor erteilten Erlaubnisse