1.Kontroll- und Steuerungsverlust in Krisenzeiten
Wirtschaftskriminalität ist kein ›Kavaliersdelikt‹. Mit einem Begriff wie diesem wird umgangssprachlich gerne die Grenze zwischen legal und illegal aufgeweicht. Und bezeichnenderweise werden Verstöße gegen Steuervorschriften an erster Stelle genannt, wie Umfragen zeigen. Damit ist es denjenigen, die für schwere Steuerrechtsverletzungen verantwortlich sind, gelungen, ihren damit verbundenen Anschlag auf die Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge als (annähernd) legitime persönliche Bereicherung hinzustellen. Die meinungsprägenden Medien waren dabei sehr behilflich. Es ist erstaunlich, wie gut ihnen das gelungen ist. Denn wenn es um die schlechte Ausstattung des Gemeinwesens geht, werden Staat und Kommunen gnadenlos kritisiert und als unfähig hingestellt. Wenn es dagegen darum geht, ihnen Steuergelder abzutrotzen, ihnen also die Hilfsmittel zu entziehen, werden Staat und Kommunen genauso gern als Gegner, noch besser als ›Räuber‹ dargestellt – eine inszenierte Schizophrenie.
Rund um die Bundestagswahl vom 26.9.2021 konnte man dieses ›Spiel‹ bei den Kontrahenten Kevin Kühnert (SPD) und Christian Lindner (FDP) beobachten, als Kühnert dabei Lindner als ›Luftikus‹ bezeichnete, weil er Superreiche steuerlich entlasten wolle, gleichzeitig aber kein seriöses Finanzkonzept habe.7
Wirtschaftskriminalität ist auch keine Angelegenheit, die sich, wie manche vielleicht assoziieren, vornehmlich im Bereich der Buchführung, also quasi ›auf dem Papier‹ abspielt und Menschen nicht wirklich beeinträchtigt. Dass auch dieses gern vermittelte Bild nicht stimmt, soll im Kapitel über die beträchtlichen und – was den ökologischen Aspekt angeht – oft irreversiblen Schäden an einigen Beispielen beleuchtet werden.
Wenn von sozialen Konflikten, persönlichen Schäden und ökologischen Katastrophen gesprochen wird und Wirtschaftskriminalität mit Verbrechen assoziiert wird, dann kommt man der Sache schon näher.
Aber auch das wird von interessierter Seite gern als ›Kollateralschaden‹ bezeichnet, also als bedauernswertes Abfallprodukt einer eigentlich dem Gesamtwohl zuarbeitenden Wirtschaft.
Wenn nun aber tatsächlich neben der Schädigung vieler Einzelpersonen dauerhafte Umweltzerstörung und Kriege die Folge sind, fällt es schon schwer, hier noch von Kollateralschäden zu sprechen! Erst recht natürlich, wenn aus Tausenden von ›Einzelfällen‹ der systemische Charakter sich als Grundgewebe immer deutlicher abzeichnet.
Da hilft es auf Dauer nicht, immer wieder das Wort ›Skandal‹ zu bemühen! Aber die auf Push-Nachrichten getrimmten Medien leben eben eher und mehr von der Ausnahme als der Regel oder gar der Struktur, die zu kritisieren wäre.
Wenn im Folgenden die Kriminalität der großen Wirtschaftsunternehmen in den Blick genommen wird, werden sehr schnell eine Struktur und ein Mechanismus erkennbar, welche es nahelegen, wechselseitige Übergänge von legalen Wirtschaftsoperationen zu illegalen und umgekehrt als Normalzustand anzusehen. So stehen inzwischen fast alle gesetzlichen Maßnahmen, seien es solche zum Umweltschutz, zum Arbeitsrecht oder zur Besteuerung unter dem Verdikt, dass große transnational operierende Konzerne (und das sind praktisch alle) einer gesetzlichen Regelung durch die Verlagerung ihrer Tätigkeit in ein nicht reguliertes Territorium ausweichen können und dies auch tun. Als giftig eingestufte Stoffe werden in all den Ländern weiter eingesetzt, die es nicht verbieten. Die primitivsten Arbeitsschutzregelungen werden durch Produktionsverlagerungen umgangen. Durch Einschaltung immer weiterer Subunternehmen kann die rechtliche Verantwortung so verwischt werden, dass sie dem Ausgangsunternehmen nicht mehr nachzuweisen ist. Diese Problematik spielt nicht zuletzt bei der Lieferkettengesetzgebung eine wichtige Rolle. Auf diese Weise können im Extremfall geheime Firmen mit nicht legalen Operationen betreut werden, was insbesondere bei Rüstungsgeschäften nicht unüblich ist.
Umgekehrt ist die ›Geldwäsche‹ das Mittel, illegale Gelder in legale zu transformieren. Nicht ohne Grund ist das Bankgeheimnis bis heute ein schützenswertes Rechtsgut und kann es fast mit dem Beichtgeheimnis der katholischen Kirche aufnehmen.
Man könnte einwenden, dass das Ausweichen in nicht regulierte Bereiche nicht illegal sei, und dass hier bestenfalls von illegitim, also von einer ethischen Warte aus zu sprechen sei.
Damit wird das Problem aber nicht entschärft, weil
a.diese Grenze fließend ist, wie an den Cum-Ex-Geschäften gezeigt werden kann und
b.die Grenzziehung selbst oft in den Händen der Profiteure liegt oder in dieselben gegeben wird,
c.ein Wirtschaftssystem, das mit Rankings von Maximalprofiten arbeitet, permanenten Druck auf diese Grenzziehung zulasten der Regulierung ausübt.
Solches kann natürlich weder aus der Demokratieperspektive noch aus der Perspektive des Rechtsstaats akzeptiert werden. Die Schäden für Demokratie und Rechtsstaat, aber auch für Gesellschaft und Ökologie wären auf Dauer unerträglich.
Deshalb sollen im folgenden Abschnitt zunächst Streiflichter auf die Schäden geworfen werden, denn mehr als Streiflichter würde den Rahmen sprengen. Es handelt sich dabei nicht, wie oben bereits angedeutet, um abstrakte Schäden, die lediglich ›auf dem Papier‹ begangen werden und ansonsten keine größeren Probleme bereiten. Ganz im Gegenteil: Das Ausmaß dieser Schäden ist beträchtlich und erreicht schwindelerregende Größenordnungen.
All diese Schäden wurden und werden im Übrigen wider besseres Wissen angerichtet, um kurzfristig Profite zu erzielen. Denn die Schäden wären vermeidbar gewesen. An Alternativen mangelt es jedenfalls nicht. Ebenso wenig wie an gesellschaftlichem Engagement in jedem Einzelfall.
Viele dieser Beispiele sind im Übrigen in der Vierteljahreszeitschrift von BCC – BIG Business Crime8 – und gegenwärtig als Beilage in Stichwort Bayer – Zeitschrift der Coordination gegen BAYER-Gefahren9 – dargestellt.
2.Ein Blick auf die Schäden von Wirtschaftskriminalität – ›Peanuts‹?
Abfälle
Ist es kriminell, Flüsse, Seen und die Meere zu verseuchen? Luft und Flüsse waren ja doch früher die ›kostenlosen Entsorgungsträger‹. Ich habe es als Kind selbst erlebt, wie sich der Fluss Kocher in meiner Geburtsstadt Aalen mit all den Farben gefüllt hat, welche die entsprechende Färberei dort jeweils abgelassen hatte.
Fotografie des Autors
Auf die selbst gezogenen Pflanzen wurde E 605 gesprüht – ein heute verbotenes Pflanzengift. Der Himmel über der Ruhr, wo meine Frau herkommt, war meist nicht blau, sondern von Ruß durchsetzt, was u. a. den Lungen nicht besonders förderlich war.
All das war nicht kriminell – jedenfalls nicht im juristischen Sinn. Und es war üblich. Es hatte vor allem bestimmte Vorteile: für die verseuchenden Unternehmen.
Konnte man es wirklich nicht besser wissen? Oder betrachtete man dies schon damals als Kollateralschäden einer ›florierenden‹ Wirtschaft? Als notwendiges Übel?
Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat eine unbeschreibliche Warenfülle hervorgebracht, mehr als es kaufkräftige Nachfrage gibt, weshalb für die reichen Staaten der Begriff der ›Wegwerfgesellschaft‹ geprägt wurde. Weil aber die Produktion im Mittelpunkt stand und immer noch steht (Marxisten sagen, die Verwandlung des Mehrwerts in Waren), sind die damit einhergehenden Abfälle doch weit mehr als nur ein Kollateralschaden; sie gehören zum System, sind also systemimmanent.
Am Grundprinzip, Abfälle privater Unternehmen zulasten der Gemeinschaft zu entsorgen (zu externalisieren) und auf diese Weise interne Kosten zu sparen, hat sich bis heute eigentlich nichts geändert.