Fortunat aber, der untedes an einem entfernteren Tische sein Abendessen verzehrte, war nicht wenig erstaunt, als er in Lothario, da er vorhin seine Polizeimaske abwarf und ins volle Licht getreten war, auf einmal den wunderlichen Cicerone wiedererkannt hatte, der ihn am ersten Morgen in Hohenstein durch den Garten begleitet. Er benutzte die plötzliche Stille, um den alten Bekannten zu begrüßen. Lothario schien überrascht und sah Fortunaten einen Augenblick durchdringend an. – »Hat mich sonst noch jemand dort gesehen?« fragte er endlich, und als Fortunat es verneinte, schien er noch viele Fragen auf dem Herzen zu haben, besann sich aber schnell wieder. »Ich liebe Hohenstein«, sagte er nach einer kurzen Pause, »vor allen andern Orten und mache, sooft wir in der Nähe vorüberziehen, einen Abstecher nach dem Garten. – Doch heut ist's schon zu spät, wir sprechen wohl noch morgen mehr davon.« – Hiermit schüttelte er Fortunaten die Hand und ging nach dem andern Flügel des Hauses hin.
Fortunat konnte in seiner Kammer lange nicht einschlafen. Im Hause und unter den Fenstern war alles still geworden, nur die Bäume neigten sich rauschend im Winde, während ferne Blitze zuweilen noch eine plötzliche, gespenstische Helle über den Garten warfen. Da war es ihm, als nahten sich zwei Gestalten von fern dem Hause. Er erkannte Lotharion, der mit einem fremden Manne, den er bisher in der Gesellschaft nicht bemerkt hatte, in lebhaftem Gespräch begriffen schien. Sie verloren sich bald wieder zwischen den Bäumen, nach einem Weilchen kam Lothario allein zurück, dann wurde alles wieder still.
Siebentes Kapitel
Noch war keine Spur des Morgens am Himmel, da lagen mehrere der jüngeren Schauspieler, denen es zu schwül im Hause geworden war, in ihre Mäntel gehüllt, schlafend auf den Stühlen und Bänken unter den Linden umher. Fabitz, der Komikus, welcher sich über den langen Tisch hingestreckt hatte, erwachte zuerst. Er blickte erschrocken in den Himmel, und da er an dem Stand der Gestirne bemerkte, daß es lange nach Mitternacht war, sprang er sogleich auf den Tisch hinauf und fing wie ein Hahn zu krähen an.
Da fuhr eine dunkle Gestalt nach der andern fröhlich in die dämmernde Nacht empor, schauernd und sich schüttelnd in der kühlen Luft. Lothario aber kam, schon ganz reisefertig, tiefer aus dem Garten und pochte lustig an die Haustür. »Glück auf!« rief er, »fröhliche Botschaft! Heraus da! Ich habe Fortunam beim Schopf!« – Nun fuhren schlaftrunkene Mädchengesichter neugierig aus den Fenstern, immer mehr Stimmen wurden nach und nach drinnen wach, Türen flogen heftig auf und zu, und bald glich das ganze Haus einem Bienenstocke, der schwärmen will.
Fortunat, von dem wachsenden Lärm aufgeschreckt, eilte gleichfalls hinab und fand schon die ganze Gesellschaft in der liebenswürdigsten Laune um Lothario versammelt. Dieser hatte nämlich in der Nacht durch einen Freund die Nachricht erhalten, daß der Fürst auf seinem eine Tagereise von hier gelegenen Jagdschlosse angekommen, wo er jeden Sommer einige Wochen hindurch sich den Freuden der Jagd und allerlei wunderlichen, romantischen Einfällen zu überlassen pflege. Dem Briefe lag zugleich eine Einladung des Fürsten an Herrn Sorti bei, mit seiner Truppe so schnell als möglich sich auf dem Schlosse einzufinden. – Dieser unerwartete Glücksfall verbreitete einen allgemeinen Jubel. Ein jeder schnürte eiligst sein Bündel, alle versprachen sich goldene Berge von dem reizenden Aufenthalt, die Männer Ruhm und gutes Leben, die Mädchen vornehme Liebschaften und Geschenke. Fortunat selbst, den sein Weg ohnedies an dem fürstlichen Schlosse vorbeiführte, beschloß, die Fröhlichen bis in die Nähe desselben zu begleiten.
Die aufgehende Sonne traf die muntere Karawane schon draußen auf den Bergen. Kamilla – so wurde die Dame mit dem Schirm genannt – schien Fortunaten ausweichen zu wollen und war daher mit Herrn Sorti auf dem Packwagen vorausgefahren. Die andern hatten in dem Städtchen einen Burschen gedungen, der sie auf den Fußsteigen durch den schönen Wald führen mußte, alle waren freudig aufgeregt und sprachen viel von den Festen auf dem fürstlichen Schlosse und den schönen Tagen, denen sie entgegenwanderten. Ruprecht schritt Tabak rauchend wieder voraus und intonierte an den schönsten Waldstellen zuweilen: »In diesen heiligen Hallen« oder eine andere würdige Baßarie, während Fabitz unermüdlich die mannigfaltigsten Vögelstimmen nachahmte. Lothario schweifte unterdes, seine Flinte auf dem Rücken, allein auf den Bergen umher, von Zeit zu Zeit hörte man ihn fern im Walde schießen, was jedesmal von der Gesellschaft mit einem lauten Hurra erwidert wurde. – Fortunaten aber war wunderlich zumute in der ungebundenen Freiheit. Er atmete fröhlich die kühle Waldluft, sich oft zurückwendend und des munteren Zuges erfreuend, wie die heiteren Gestalten mit ihren bunten Tüchern und phantastischen Reisetrachten bald über ihm auf überhängenden Felsen erschienen, bald tief im dunklen Grün wieder verschwanden.
Als die Sonne schon hoch stand, ruhte die Truppe auf einer schönen Waldwiese aus. Da kam plötzlich auch Lothario aus dem Walde zu ihnen. »Wer ist der fremde Herr hier in den Bergen?« fragte er rasch den Führer, »da ist so ein Kerl im Frack, der schlüpft schon die ganze Zeit über von Strauch zu Strauch, sieht sich manchmal nach euch um und flieht dann von neuem vor eurem Singsang und Geschnatter, wie ein Hase auf der Klapperjagd.« – »Das ist gewiß der Doktor«, erwiderte der Führer lachend, »der kam einmal mitten in einem Platzregen ins Dorf, wie vom Himmel gehagelt. Die Gegend gefiel ihm, es war grade ein Haus droben leer, da wohnt er seitdem darin, eine alte Frau aus dem Dorfe besorgt ihm das Essen. Am Abend aber, wenn die jungen Burschen und Mädchen vor den Haustüren sitzen, kommt er auch herab, und sie müssen ihm Lieder singen und Märchen erzählen, da hat er schon manche Maulschelle bekommen, wenn er die Mädchen heimlich in die Arme kniff. Aber es ist ihm nicht zu trauen«, fuhr der Führer fort, »er hat droben kuriose Bücher, da ist kein christlicher Buchstabe drin, lauter Zirkumflexe, wie wenn eine Spinne übers Blatt gelaufen wäre, und sooft er aus den Büchern murmelt, zieht sich an den Bergkoppen ein Wetter zusammen, dann hört man ihn drinnen im Hause laut sprechen und schimpfen, und ist doch kein Mensch bei ihm.«
In demselben Augenblick erblickten sie auch den Zauberer selbst in der Ferne, wie er soeben hastig den Berg hinanklomm, daß die Steine hinter ihm herabkollerten. – »Den muß ich doch sprechen!« rief Lothario, dem Fliehenden sogleich rasch nachsetzend. Fortunat und noch einige andere von der Gesellschaft schlossen sich neugierig an.
So verfolgten sie rasch die Spur des Fremden, der unterdes schon den Gipfel des nächsten Hügels erreicht hatte; nur seine Rockschöße sahen sie noch manchmal zwischen den Gebüschen fliegen, bis sie ihn zuletzt ganz aus den Augen verloren. Nach mühsamen Umherirren gelangten sie endlich an ein halbverfallenes, rings von hohem Unkraut umgebenes Haus, dessen Türen und Fenster fest verschlossen waren. – »Da ist er gewiß hineingeschlüpft«, sagte Lothario und klopfte an die alte Tür. Es erfolgte keine Antwort, aber im Innern des Hauses hörten sie ein gewaltiges Gepolter, als würden Tisch und Bänke hastig an die Türe geschoben. Lothario pochte von neuem, stärker und immer stärker. Da flog plötzlich oben eine Dachluke auf, und mit zornblitzenden Augen erschien in der Öffnung ein kleiner, lebhafter Mann, in dem Fortunat zu seinem Erstaunen sogleich den nächtlichen, seltsamen Geiger aus dem Weinkeller in Walters Städtchen wiedererkannte. – »Doktor! – Dryander!« riefen die Schauspieler überrascht aus.
»Was wollt ihr?« fuhr sie der Musikus von oben sehr heftig an. »Denkt ihr, ich werde aus den frischen Berglüften zu eurem dicken Lampendunst hinabkommen und das Volk lassen um das Publikum und das Rauschen der Wälder um eure Triller und Sentenzen? Geht hinunter und weint um Hekuba, wenn ihr nicht über eure eigene Misere weinen könnt!« – Hier sah er erst seine Zuhörer einen nach dem andern genauer an. »Entsetzlich«, sagte er nach einer kurzen Pause zu Ruprecht, »du schaust wie ein brennender Busch aus. – Und du, idealer, blaß verwaschener Musenbräutigam, redest du jede Magd noch Jungfrau an und forderst den Stiefelknecht in Jamben? – Aber dich, Barbar, der in Blut watet und von den Tränen des Publikums lebt, dich erkannt' ich gleich an der roten, tyrannischen Stirne wieder!«