Auf einem solchen Morgenritt tröstete er sich einmal mit folgendem Liedchen:
Ich wollt im Walde dichten
Ein Heldenlied voll Pracht,
Verwickelte Geschichten,
Recht sinnreich ausgedacht.
Da rauschten Bäume, sprangen
Vom Fels die Bäche drein,
Und tausend Stimmen klangen
Verwirrend aus und ein.
Und manches Jauchzen schallen
Ließ ich aus frischer Brust,
Doch aus den Helden allen
Ward nichts vor tiefer Lust.
Kehr ich zur Stadt erst wieder
Aus Feld und Wäldern kühl,
Da kommen all die Lieder
Von fern durchs Weltgewühl,
Es hallen Lust und Schmerzen
Noch einmal leise nach,
Und bildend wird im Herzen
Die alte Wehmut wach,
Der Winter auch derweile
Im Feld die Blumen bricht
Dann gibt's vor Langerweile
Ein überlang Gedicht!
Bei seiner Rückkehr fand er im Hause alles ausgeflogen, und streckte sich ermüdet im Garten an dem hohen Bogengange ins Gras. Er hatte aber noch nicht lange geruht, als er Stimmen neben sich vernahm, an denen er die Amtmannin und Waltern erkannte, die, ohne ihn zu bemerken, in dem Gange auf und nieder wandelnd, in lebhaftem Gespräch begriffen schienen. – »Das kommt bei dem Überstudieren heraus«, sagte soeben die Amtmannin, »nichts als Verse im Kopf, Reisen und dergleichen unkluges und kostspieliges Zeug.« – »Ich glaube gar«, rief Fortunat, »die spricht von mir!« – »Beruhigen Sie sich«, hörte er nun Waltern entgegnen, »ich werde versuchen, die eigentlichen Absichten dieses verschlossenen, rätselhaften Gemüts zu erforschen.« – »Bei Nacht möchte er spazierengehen«, fing die Amtmannin wieder an, »den Tag verträumt er! Und warum verbirgt er sich vor uns?« – Hier verlor sich der Diskurs in der Ferne. Fortunat sprang hastig auf. »Sie reden von meinem unbekannten Führer im Garten an jenem ersten Morgen«, dachte er, und es fiel ihm aufs Herz, daß er ihn in der Zerstreuung so ganz vergessen hatte.
Als am Abend alle unter den Linden vor der Haustüre sich wieder versammelten, beschloß er, der Sache näher auf den Grund zu kommen. Der Amtmann war der erste auf dem Platz, er erzählte ihm sogleich das ganze Begegnis, wie er damals den Unbekannten schlafend am Springbrunnen getroffen und was sie miteinander gesprochen hatten. Dieser hörte sehr aufmerksam zu, er mußte ihm Größe, Kleidung, Haare und Stimme des Fremden ausführlich beschreiben, aber der Amtmann wußte alles besser als er, alle seine Fragen trafen wunderbar ein. »So kennen Sie ihn also?« fragte Fortunat. – Der Amtmann schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß nicht, wer es war«, sagte er, »und darf nicht sagen, was ich vermute.« – Unterdes war seine Frau herausgekommen, er bat Fortunaten schnell, vor den Weibern nichts von der Geschichte zu erwähnen. Jetzt trat auch der Student Otto, der von einem weiten Spaziergange zurückzukommen schien, zu der Gesellschaft. Als er sich bei ihnen niederließ und in der warmen Luft seinen Rock schnell öffnete, fiel ein sauber eingebundenes Buch daraus zu Boden; es war des Grafen Victors neuestes poetisches Werk, das er bisher noch nicht gekannt und heute früh unter den zerworfenen Büchern des Amtmanns gefunden hatte. – »Ach, ich dachte, es wäre dein juristisches Handbuch«, sagte die Amtmannin, indem sie das Buch aufnahm und Otton zurückgab. Dann, sich gemächlich auf ihren Lehnstuhl zurücklehnend, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort: »Hab' ich doch heute vor Tagesanbruch in Haus und Hof zu schaffen gehabt, daß mir ordentlich alle Glieder wehtun. Nun dafür schmeckt auch am Abend die Ruhe, wenn man sich wacker gerührt und seine Pflichten erfüllt hat.« – Otto errötete flüchtig, ohne etwas darauf zu erwidern. – Fortunaten aber fiel es bei diesen Worten erst auf, wie sonderbar allerdings Otto seit einiger Zeit erschien. Alle Morgen zog er ganz allein in den Wald hinaus und kam selten vor Mittag wieder zum Vorschein. Dann war er einsilbig, schüchtern, zerstreut, und oft mitten in den heitersten Augenblicken flog es über sein freundliches Gesicht wie ein Wolkenschatten über eine schöne, sonnenhelle Gegend.
Man hatte unterdes das Abendessen aufgetragen, und die rüstige Amtmannin, die es nun heut einmal auf Otton abgesehen zu haben schien, begann, indem sie den Braten zerschnitt und jeden reichlich davon beteilte, sich mit allerlei weisen Redensarten und spitzigen Ausfällen über die teuren Zeiten zu verbreiten, und wie notwendig es sei, daß ein junger Mensch jetzt frühzeitig darauf denke, dereinst sein sicheres Brot zu haben. Da seien noch immer Toren genug in der Welt, um reichen Leuten die Zeit zu vertreiben mit schönen Bildern, Komödienspielen oder Versemachen – das sei ein bloß herrschaftliches Vergnügen, setzte sie schnell verbessernd hinzu, indem ihr dabei Graf Victor einfallen mochte. – Der Amtmann hatte die Salatschüssel vor sich geschoben und aß hastig, man konnte nicht erraten, ob er sich über Otto oder über seine Frau ärgerte. – »Da fällt mir immer mein seliger Bruder ein«, hub die letztere wieder an; »er hat auch studiert, aber das war ein gescheuter Kopf, der ließ die Phantasten ablaufen, setzte sich auf seine Brotwissenschaften, heiratete eine gebildete, vernünftige Frau, und Gott hat seinen Ehestand gesegnet. Nun, du kannst es ja selber bezeugen« – fuhr sie zu dem Amtmann gewendet fort, empfindlich, daß er ihr gar nicht beistimmte – »der ließ sich zu seiner Hochzeit von den besten Poeten Schäfergedichte machen, Gott weiß, wo die nun selber die Schafe hüten.« – Hier brach Otto, der bis jetzt sichtbar mit sich selbst kämpfte, plötzlich mit verbissener Bitterkeit und einem höhnischen Stolze los, den niemand dem sanften Jünglinge zugetraut hatte. »Lieber Schweine hüten«, sagte er, »als so zeitlebens auf der Treckschuite gemeiner Glückseligkeit vom Buttermarkt zum Käsemarkt fahren. Der liebe Gott schafft noch täglich Edelleute und Pöbel, gleichviel, ob sie Adelsdiplome haben oder nicht. Und ich will ein Herr sein und bleiben, weil ich's bin und jene Knechte sollen mich speisen und bedienen, wie es ihnen zukommt!« – Das war der bestürzten Amtmannin zu toll. »Unsinniger, aufgeblasener Mensch!« rief sie hochrot vor Zorn; »so iß meinetwegen trockenes Brot, wenn du Butter und Käse verachtest! Aber wir wissen's wohl, wo du die Komödiantensprüche gelernt hast. Denke nur nicht, in unser ehrliches Haus einmal eine Theaterprinzessin heimzuführen, die nicht so viel hat, um die Löcher zu flicken, die sie in ihre Lappen gerissen, so eine von aller Welt ausgeklatschte Kreatur!«
Aber Otto hörte nicht mehr, er war rasch aufgestanden und schritt zürnend in den nächtlichen Garten hinein. Walter, in sichtbarer Verlegenheit, wollte ihm folgen, wurde aber von Fortunat aufgehalten, der ihn schnell in einen Seitengang führte. »Sage doch nur«, fragte er Waltern, »was gibt's eigentlich hier, und wo willst du hin?« – »Den Gekränkten trösten«, erwiderte Walter, »und – vermag ich's sonst – ihm auch den Kopf ein wenig zurechtsetzen. Komm mit!« – »Das laß ich wohl bleiben«, rief Fortunat aus, »ich bin froh, wenn mir mein eigner Kopf zuweilen noch so leidlich sitzt.« – »Mein Vorhaben«, sagte Walter, »ist wahrhaftig edler, als es dir nach deinem ironischen Gesicht auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag. Denke dir nur recht diesen stillbeschränkten, heiteren Familienkreis, dessen ganzes Trachten und Hoffen auf den einzigen Jüngling gerichtet ist, der auf der Schule immer für den aufgewecktesten und geschicktesten galt. Und nun kehrt er von der Universität zurück, verwandelt, träumerisch in sich gekehrt, unlustig zu jeder tüchtigen Arbeit und einer verworrenen Welt von ausschweifenden Gedanken und wünschen nachhängend, um – wie ich fürchte – dereinst zu spät von der grausamsten Täuschung zu erwachen und ein verlornes Leben zu bereuen. Nein, ich will es endlich versuchen, ihn auf das Gefährliche eines Pfades aufmerksam zu machen, der einsam über die Köpfe der anderen Menschen weggeht und immer nur für sehr wenige bestimmt scheint.« –