Wir machen Erfahrungen. Aber es gilt genauso: Die Erfahrungen machen uns. Sie verändern unsere Gehirne. Was wir erleben, und besonders auch das, womit wir unsere Wochen, Monate und Jahre füllen, verändert unser Gehirn. Beispiel gefällig? Versuchspersonen übten fünf Tage lang für zwei Stunden täglich am Klavier eine Tastenfolge. Dadurch vergrößerten sie die Gehirnregion, die für ihre Finger zuständig ist. Wer anschließend nicht weiterübte, verlor diese Vergrößerung aber wieder innerhalb einer Woche. Noch mehr Beispiele? Bei Londoner Taxifahrern, die sich tagtäglich in der Millionenstadt ohne Navi zurechtzufinden, fand man die Gehirnregion vergrößert, die für räumliche Orientierung zuständig ist. Bei jungen Erwachsenen, die über drei Monate hinweg Jonglieren übten, vergrößerten sich die Gehirnregionen, die für die Auge-Hand-Koordination zuständig sind. Junge Erwachsene, die fünf Tage lang ihre Augen verbundenen hatten und Braille-Schrift übten, begannen vorübergehend den Teil des Gehirns für das Tasten zu nutzen, der normalerweise für das Sehen zuständig ist. Und schließlich: Jungen Erwachsenen wurden die Finger einer Hand betäubt. In den nachfolgenden drei Stunden schrumpften die Gehirnregionen, die für ihre Tastempfindungen an diesen Fingern zuständig waren. Gleichzeitig wurde ihre Tastempfindung im Gesicht besser. Die „arbeitslosen“ Nervenzellen hatten sich einen neuen Job gesucht.
Nancy, ihre Erfahrungen und das Klima ihrer Heimatstadt
Über Nancy gibt es verschiedene Geschichten zu erzählen. Hier sind vier:
1. Nancy schwimmt gerne. Sie wollte zum Schwimmbad, hat sich aber verlaufen. Nancy hat dann einen alten Mann, der am Bus wartete, nach dem Weg gefragt. Doch der alte Mann konnte ihr nicht helfen. Aber als der Bus kam, hat er den Fahrer gefragt. Der Fahrer hat Nancy den Weg erklärt. So kam Nancy dann doch noch zum Schwimmbad. | 2. Eines Morgens war Nancys Wecker kaputt und sie hat verschlafen. Als sie aufwachte, merkte sie, dass es spät war und sie eine wichtige Vorlesung verpasst. Nancy hat sich so schnell wie möglich angezogen, hat das Haus verlassen und ist zur Vorlesung gerannt. Als sie ankam, war niemand mehr da. Sie hatte die gesamte Vorlesung verpasst. |
3. Nancy hat ein Verhältnis mit ihrem Professor, der verheiratet ist. Jetzt ist sie schwanger von ihm. Er hatte versprochen, seine Frau für sie zu verlassen. Aber seit sie schwanger ist, will er nichts mehr von ihr wissen. Nancy hat der Frau des Professors von dem Verhältnis erzählt. Die war am Boden zerstört und hat ihren Mann verlassen. | 4. Das Klima in Nancys Heimatstadt ist im Sommer trocken und heiß. Der Boden trocknet aus und die Pflanzen verdorren. Die trockene Vegetation fängt schnell Feuer und es gibt oft Waldbrände. Diese Waldbrände sind dafür verantwortlich, dass sehr viel CO2 in die Atmosphäre gelangt. Das trägt zur globalen Erderwärmung bei. |
Diese vier Geschichten sind Teil einer Studie02-05, die herausfinden wollte, welche Art von Information sich wie weit und wie genau verbreitet. Die Versuchspersonen spielten dafür so etwas wie Stille Post: Einer las eine der Geschichten und erzählte sie dem Zweiten. Der Zweite erzählte sie dem Dritten. Der Dritte erzählte sie dem Vierten. Wer schon mal Stille Post gespielt hat, weiß, da kommt am Ende nicht mehr viel an. Aber die Geschichten unterschieden sich in dieser Hinsicht. Besonders viel verloren ging auf dem Weg der Geschichte Nr. 4. Über das Klima in Nancys Heimatstadt hat die vierte Person im Durchschnitt kaum noch etwas aus der Originalgeschichte erfahren. Die staubtrockene Geschichte vom staubtrockenen Klima schmiert ab. Besonders gut überstand die Geschichte Nr. 3 die Weitergabe. Über Nancys Affäre und die Folgen hat die vierte Person noch immerhin ein Drittel korrekte Aussagen aus der Originalgeschichte erhalten. Klatsch und Tratsch, die schlimmen Erfahrungen von uns mit anderen Menschen, werden am weitesten und genausten verbreitet.
Sie vertrauen Ihren Erfahrungen. Vertrauen Sie auch den Erfahrungen von anderen? Egal, Sie hören jedenfalls eine Menge davon. Wenn wir uns mit anderen treffen, reden wir vor allem über persönliche Beziehungen und Erlebnisse, also über soziale Erfahrungen.02-06
Übrigens: «Unpassende» Erfahrungen
Erfahrungen lassen uns im Autopilot-Modus das Leben meistern. Wir kennen die Situationen, auf die wir treffen. Wir wissen, wie wir darauf reagieren können. Wir verstehen, mit welchem Ergebnis wir zu rechnen haben. Nachdenken nicht nötig. Aufmerksamkeit auch kaum. Manchmal passiert es allerdings, dass etwas nicht stimmt. In der Formelsammlung steht ein Duo aus Situation und Reaktion, das aber überraschenderweise nicht zum angegebenen Ergebnis führt. Der Autopilot springt sofort auf AUS. Und wir fragen uns, was ist denn jetzt los?
Schlanke Frauen erleben das gegen Ende ihrer Schwangerschaft. So manches geht aufgrund der Körperfülle nicht mehr. Es ist passé, sich im Supermarkt an einer engen Stelle zwischen Regal und einsamen Einkaufswagen wie immer seitwärts vorbeizudrücken. Wer es trotzdem versucht, erlebt eine von diesen unpassenden Erfahrungen.
Paula Williams02-07 hat eine Fülle unpassender Erfahrungen in ihrer Formelsammlung. Gesammelt hatte sie diese Erfahrungen 60 Jahre lang als Paul, ein erfolgreicher Geschäftsmann. Wenn Paul in einem Businessmeeting ärgerlich geworden ist, galt das als Zeichen seiner Leidenschaft für das Thema. Wenn Paula dasselbe tut, gilt sie nun als hysterisch. Man nimmt sie beiseite und erklärt ihr, dass sie viel zu emotional sei. Auch bei Gesprächen mit Unbekannten muss Paula nun ihre alten unpassenden Erfahrungen gegen neue tauschen: Ständig wird sie von Männern unterbrochen und behandelt, als wisse sie nicht, wovon sie spreche. Diese Dinge standen nicht in ihrer alten Formelsammlung.
Auch Günter Wallraff machte neue Erfahrungen, als er sich in der Bundesrepublik der 90er Jahre als Türke Ali verkleidete.02-08 Saß er als Ali im überfüllten Bus, setzte sich niemand auf den leeren Platz neben ihm. In Restaurants und Kneipen wurde er als Ali geflissentlich übersehen. Beim politischen Aschermittwoch der CSU gelang es ihm nicht, ein Bier zu bestellen. Die Bedienung ignorierte ihn und beim Ausschank hieß es zu Ali: «Geh, schleich dich, aber hurtig!» Nichts davon war ihm zuvor als blauäugigem Deutschen passiert. Seine alten deutschen Erfahrungen passten so gar nicht zu seinem Leben als Türke.
Darf ich vorstellen? Günter Wallraff
Günter Wallraff hat in seinem Bestseller «Ganz unten» das Leben von Türken in der Bundesrepublik beschrieben. Für das Buch präparierte er eine alte Aktentasche mit einer Videokamera und schlüpfte in die Rolle des Türken Ali, mit dunkler Perücke, dunklem Schnauzer und dunklen Kontaktlinsen. Das hätte er einfacher haben können. Vom Sessel aus. Ganz ohne die eigene Gesundheit zu untergraben. Seine Beobachtungen und Befragungen hätte er zusammenfassen können zu «Türkische Arbeiter werden ausgenutzt». Die Aussage wäre in beiden Fällen dieselbe. Aber wie viel mächtiger ist die Erfahrung, die der Leser und die Leserin zusammen mit Ali im Buch durchleben können.
Als Ali bei einer Bäuerin täglich zehn Stunden nur für Kost und Logis arbeitet: Wobei die Logis nicht etwa ein freies, warmes Zimmer in ihrem Haus war, sondern eine Baustelle ohne Tür mit einem Plastikeimer als Toilette.
Als Ali ohne Schutzmaske bei Thyssen mit Pressluftgebläsen die Staubschichten auf den Maschinen und in den Ritzen aufwirbeln und dann in Plastiksäcke schaufeln muss: Der Staub war so dicht, dass Ali und seine Kollegen die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnten. So dicht, dass sie den Staub nicht nur einatmeten, sondern auch schluckten, daran würgten. «Beeilung!», rief der Vorarbeiter wie ein Aufseher eines Sträflingskommandos. «Dann seid ihr in zwei, drei Stunden fertig und dürft wieder an die frische Luft.» Nach einer halben Stunde kam der Sicherheitsbeauftragte. Monteure hätten sich beschwert. In dem Dreck könnten sie nicht mehr arbeiten. Der Sicherheitsbeauftragte meint dazu: «Macht gefälligst mal schnell, dass ihr damit fertig werdet.»
Als Ali und sein Kollege Osman beim Chef