Darf ich vorstellen? Suzanna Hupp & Leslie Ervin
Suzanna Hupp ist eine US-Amerikanerin, die gelernt hat, mit einer Waffe umzugehen. Sie tritt vehement für das Recht auf Selbstverteidigung ein. Vor allem, nachdem sie ihre Eltern bei einer Schießerei in einem Restaurant verloren hat. Suzanna war mit ihren Eltern dort. In ihrer Handtasche hatte sie manchmal auch ihre Waffe versteckt. Ein Freund sagte zu ihr: Als alleinstehende Frau in einer großen Stadt musst du die Waffe immer bei dir haben. Hatte Suzanna aber damals nicht. Weil es verboten war. Sie wollte nicht damit erwischt werden und ihre berufliche Existenz gefährden. Nun lag Suzanna mit den anderen Gästen auf dem Boden des Restaurants, in dem auf wehrlose Menschen geschossen wurde. Sie hätte den Verrückten vielleicht mit ihrer Waffe stoppen können. Doch die Waffe war, wie das Gesetz es verlangte, nicht bei ihr. Suzanna macht dieses Gesetz für den Tod ihrer Eltern mitverantwortlich.02-02 23 Menschen verloren ihr Leben, bevor der Schütze sich selbst tötete. Eigene Erfahrungen haben Suzanna überzeugt, dass strikte Waffengesetze die Kriminalität steigern. Schließlich können sich rechtschaffene Bürger dann nicht wehren und ihre Lieben beschützen. Ihre eigenen Erfahrungen können es bezeugen.
Leslie Ervin02-03 ist eine US-Amerikanerin, die auch Schlimmes durchgemacht hat. Sie tritt daher für striktere Waffengesetze ein. Sie hat ihren Mann verloren. Der gemeinsame Sohn hat ihn im Wahn umgebracht. «Weg da. Ich arbeite für die CIA. Dieser Mann ist ein Hochstapler. Er will die Familie töten und ich bin hier, um euch zu beschützen!», herrschte er seine kleineren Geschwister an. Leslies Sohn hatte Asperger, litt unter Schizophrenie und mochte Waffen. Therapien mochte er nicht. Er hat sich ein Waffenarsenal angelegt. Als Volljähriger, obwohl psychisch labil, durfte er sich Waffen kaufen. Und Therapien verweigern. Der Vater, ein Anwalt, wusste, dass rechtlich nichts unternommen werden konnte. Die Eltern sahen ein Unglück kommen, aber ihnen waren die Hände gebunden. Auch die Polizei konnte nichts tun. Als Leslie eines Abends das Haus verließ, erstach der Junge seinen Vater und hinderte die Geschwister daran, dem Verblutenden zu helfen. Unzurechnungsfähig lebt er jetzt in einem Krankenhaus, wo ihm geholfen wird. Leslie macht fehlende Gesetze für den Tod ihres Mannes mitverantwortlich. Eigene Erfahrungen haben Leslie überzeugt, dass strikte Waffengesetze die Kriminalität senken. Schließlich ist es für labile Menschen viel zu einfach, Waffen zu bekommen. Ihre eigenen Erfahrungen können es bezeugen.
Vertrauen Sie Ihren Erfahrungen? Natürlich vertrauen Sie Ihren Erfahrungen. Alle Menschen vertrauen ihren Erfahrungen. Doch wir alle haben unterschiedliche gemacht. Und das ist gut so. Ein neunjähriges Mädchen steht mitten auf einem Platz und schreit alles zusammen, weil es gestolpert ist. Es lässt sich nicht von der Mutter und anderen herbeigeeilten Erwachsenen beruhigen. Dabei sieht niemand auch nur eine Schramme. So ein Verhalten ist heutzutage für ein Mädchen sinnvoll. Das arme Kind bekommt dadurch besonders viel Aufmerksamkeit und Mitgefühl. Und auch noch eine Cola. Oder ein Eis. Wenn es nur aufhört, alles zusammenzuschreien. Das Mädel hat sicher in seinem Leben die Erfahrung gemacht: Heulen hilft und Übertreiben schadet nicht. Ein neunjähriges Mädchen in Aleppo, aufgewachsen im Streubombenhagel russischer Flieger, hat sicherlich andere Erfahrungen gemacht. Alles zusammen schreien wird für das Mädchen nach einem Stolperer nicht zielführend gewesen sein. Wie war das bei Ihnen, als Sie neun Jahre alt waren? Wäre es gut gewesen ganz besonders laut, mit weit aufgerissenem Mund zu heulen, wenn etwas nicht nach Plan geht? Oder wäre das nach hinten losgegangen? Hätte es vielleicht sogar eine Backpfeife gegeben, «damit du weißt, warum du heulst!»?
Menschenkinder kommen ziemlich hilflos auf die Welt. Es gibt fast nichts, was wir gleich nach der Geburt können. Weder sitzen noch laufen, weder verstehen noch sprechen, nach der Geburt können wir noch nicht mal richtig gucken. Aber die Natur hat uns etwas sehr Wertvolles mitgegeben: die Fähigkeit, aus eigenen Erfahrungen abzuleiten, was man tun und lassen sollte. So sind wir in der Lage, genau das zu lernen, was zu jedem und jeder Einzelnen von uns in seiner ganz konkreten Umgebung richtig gut passt. Und wir sind bestens gerüstet für das, was kommt. Wir haben unsere Erfahrungen gespeichert.
Was ist das eigentlich, eine Erfahrung? Douglas Adams meinte: «Eine Lernerfahrung ist eines dieser Dinge, die sagen: ‹Du weißt, was du gerade getan hast? Tu das nie wieder!›».02-04 Das ist vielleicht ein wenig einseitig. Schließlich machen wir auch allerhand gute Erfahrungen. Eine Erfahrung ist allgemein ein Trio, bestehend aus einer Situation, der eigenen Reaktion darauf und einem bemerkenswerten Ergebnis. Damit ist eine Erfahrung so etwas wie eine Formel. Eine einfache Addition: Situation + Reaktion = Ergebnis. Das Ergebnis bewerten wir entweder als so gut oder so schlecht, dass wir uns das Ganze als Erfahrung merken. Sie wird in die große Formelsammlung unseres Lebens aufgenommen. In der Formelsammlung des gestolperten Mädchens steht vermutlich das Folgende:
In anderer Leute Formelsammlungen stehen andere Erfahrungen, vielleicht trotz ähnlicher Situationen und Reaktionen.
Unsere Erfahrungen sind wertvoll. Keine Frage. Oft sind sie allerdings sehr einseitig. Vielfach sind unsere Erfahrungen nur passend für einen kleinen Kreis an Menschen, die unter ähnlichen, nämlich unseren Bedingungen leben. Wir und die anderen in unserer Blase betasten wie Blinde den Rüssel eines Elefanten und bestehen darauf, dass der Elefant wie eine Schlange ist. Aber ein Elefant ist nicht nur wie eine Schlange. Doch bevor wir nicht die anderen Erfahrungen gemacht haben, kennen wir den ganzen Elefanten nicht und können ziemlich dumm und ignorant rüberkommen. Arthur Schopenhauer meinte: «Die eigene Erfahrung hat den Vorteil völliger Gewissheit.» «Oder den Nachteil», möchte man ergänzen.
©Khoon Lay Gan/Alamy
Es ist dumm, mit zu wenig Erfahrung einen Elefanten oder irgendetwas anderes zu beurteilen. Es ist aber noch dümmer, deshalb Leuten mit andersartigen Erfahrungen Dummheit vorzuwerfen. Vielleicht sind sie dumm. Vielleicht haben sie aber auch einen Punkt. Doch das wird nie wissen, wer sie sofort als dumm abkanzelt.
Übrigens: Erfahrungen in unserem Gedächtnis
Manche Erfahrungen verblassen nicht. Es fühlt sich an, als hätten sie sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Suzanna Hupps Erfahrung, auf dem Boden zu liegen im Restaurant mit dem Todesschützen vor ihr, das ist so eine eingebrannte Erfahrung. Auch der Telefonanruf «Lex hat Papa erstochen! Komm schnell nach Hause!», den Leslie Ervin bekam, ist so eine. Alle unseren bedeutsamen Erlebnissen kommen in das sogenannte episodische Gedächtnis. Die üblen wie die prächtigen. In bedeutsamen Momenten wird im Gedächtnis eine Art Aufnahmetaste gedrückt, alles abgespeichert und dann sicher verwahrt.
Aber nicht alle Erfahrungen sind so. Die «Aufnahmetaste» gibt es nicht und sie wäre ein völlig falsches Modell für die anderen Gedächtnisarten. Fast jeder kann ein Frühstücksei köpfen oder eine Kartoffel schälen. Viele von uns haben die entsprechenden Erfahrungen gemacht. Wir wissen gekonnt mit Ei und Kartoffel umzugehen. Aber diese Erfahrungen, im sogenannten prozeduralen Gedächtnis gespeichert, brauchten einiges an Übung. Und Übung. Und Übung. Nicht sofort klappte es mit der nötigen Fingerfertigkeit. Ein weiterer Unterschied: Wir erinnern uns nicht an viele dieser einzelnen geköpften Frühstückseier und geschälten Kartoffeln. Sie verschwimmen zu einem Ei- und zu einem Kartoffelschema.
Dass China als der weltweit größte Kartoffelproduzent und die Niederlande als größter Kartoffelexporteur gilt, ist (wenn wir es denn wissen) Teil des sogenannten semantischen