Reiten ohne Gebiss. Ute Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ute Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783958477056
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ist pferdefreundlich? Pferdefreundlich und sanft kann man nicht kaufen, man muss es erarbeiten und erspüren. Das Gespür für das Wesen jedes einzelnen Pferdes, seine Vorlieben und Passionen, wird den verständigen Reiter die passende Zäumung finden lassen − eventuell mithilfe des Trainers. Kein seriöser Ausbilder, egal welcher Reitweise, würde einem Jungpferd eine Kandare ins Maul hängen, weil er es mit Trense nicht anhalten kann.

      ZUM AUSPROBIEREN: Am eigenen Körper erleben!

      Oft werden Zügel weich und bequem gemacht, damit dem Reiter die Hände nicht wehtun. Was wäre, wenn wir dem Reiter einmal Heuschnüre (die schönen alten, dünnen, aus Hanf) in die Hand geben würden, die rechts und links an einem Stallhalfter befestigt wären? Oder wenigstens an der Zäumung, mit der der Reiter gerade reitet?

      Noch eindrücklicher wäre es, die Einwirkung auf den Nasenrücken selbst zu erleben, sind doch unsere Hände weniger empfindlich und weitaus besser gepolstert als das dünnhäutige Nasenbein. Als Test können wir einmal einen Bleistift oder Kugelschreiber quer über unsere Nase legen und dann mit den Zeigefingern rechts und links an den Enden des Stifts diesen gegen das Nasenbein drücken. Der Effekt wird uns überraschen! Um die Auswirkungen des Hebels zu spüren, kann man das stumpfe Ende des Bleistifts an der einen Wange fixieren und dann vorsichtig auf das andere Ende drücken. Einige werden jetzt argumentieren, schließlich nicht mit einer Stange auf der Nase des Pferdes zu reiten. Nein, natürlich nicht. Wählen wir also statt des Bleistifts eine flexible Variante. Im ungefähren Größenverhältnis könnte das etwa ein Verbindungskabel sein – zum Beispiel von einem Ladegerät. Dazu legen wir das Kabel oder die Schnur (bitte ohne dass das andere Ende in der Steckdose ist) über unseren Nasenrücken und drücken an beiden Seiten langsam immer kräftiger nach hinten. Dann ziehen wir ein paarmal ruckartig. Wie verändert sich das Gefühl mit einem doppelt oder vierfach gelegten Kabel? Diese Erfahrung sollten wir beim nächsten Mal mit zu unserem Pferd nehmen!

      Der Trend im Freizeitbereich, der scharfe gebisslose Hebelzäumungen in unkundige Anfängerhände geraten lässt, sollte daher mit Sorge betrachtet werden. Wir sollten auch einmal darüber nachdenken, warum es üblich ist, sowohl Gebisse als auch gebisslose Zäumungen dünner oder härter oder beides zu machen als die Zügel. Und warum der Reiter dann immer noch in manchen Fällen die Hände mit Handschuhen schützen muss.

      Hab also Acht, Reiter, auf dich selbst.

       Ist dein Pferd stur, heftig, ungehorsam,

       so dürften wir frech die Behauptung

       aufstellen, dir fehle es an liebenswürdigem

       Charakter und richtiger Methode.

      François Baucher (1796−1873)

      Warum sollten wir überhaupt mit Gebiss reiten, wenn es doch auch ohne geht? Das ist eine wichtige Frage. Wenn wir verstehen, dass die Voraussetzung für gutes Training die innere Einstellung zum Pferd ist, gepaart mit gut ausgeprägtem Gefühl und gut entwickeltem Timing für die Signale, dann machen wir uns ein bisschen unabhängiger von den äußeren Elementen und Werkzeugen.

      Ich möchte meinen Pferden eine so vielseitige Ausbildung wie möglich bieten können und reite daher manchmal mit Gebiss. Meine Pferde senken den Kopf und öffnen das Maul, wenn ich das Gebiss hinhalte. Die Voraussetzung dafür ist, dass man keine Angst vor dem Gebiss entstehen lässt und mit konsequent weicher, freundlicher Zügelführung arbeitet.

      Meine Erfahrung ist, dass viele Pferde sich sehr gut und entspannt mit einer einfachen Trense ohne Reithalfter bewegen, solange sie in korrekter Haltung und mit dem Nasenrücken vor der Senkrechten geritten werden. Die Bewegung des Kiefergelenks wird in keiner Weise eingeschränkt. Am losen Zügel bewegen sich unsere Pferde, je nach Gebäude, Talent, natürlicher Balance und Ausbildungsstand, mehr oder weniger biomechanisch korrekt. Um das Pferd optimal unterstützen zu können, ist es hilfreich herauszufinden, womit das individuelle Tier am besten zurechtkommt. Das kann − muss aber nicht – gebisslos sein.

      Ich kenne Pferde, die am entspanntesten mit Gebiss gehen, und Pferde, die das Gebiss überhaupt nicht mögen. Der mutige Reiter geht deshalb nicht nach dem Trend und fragt nicht seine Clique, welche Zäumung passend oder politisch korrekt wäre, sondern sein eigenes Pferd. Es ist jedoch nicht leicht, in einem traditionellen Stall gebisslos zu reiten und dadurch vielleicht als „Hippie“ angesehen zu werden – es ist aber richtig und mutig, wenn das Pferd so am glücklichsten ist.

      Ich kenne eine Pferdebesitzerin, die gebeten wurde, den Stall zu wechseln, da sie ihr Pferd gebisslos am losen Zügel ruhig und kontrolliert in der Reithalle des Anwesens ritt. Ihr wurde das Ultimatum gestellt, entweder „richtig“ mit Gebiss und Nasenriemen zu reiten oder umzuziehen. Sie wählte zum Vorteil ihres Pferdes einen neuen Stall.

      Umgekehrt kann es auch schwer sein, in der gebisslosen Gruppe plötzlich mit Gebiss reiten zu wollen und mit sorgenvollen oder verständnislosen Blicken bedacht zu werden oder sich im schlimmsten Fall, als Tierquäler abgestempelt, allein mit seinem Pferd im Wald wiederzufinden – weil die anderen mit „so einem“ nicht reiten wollen.

      Mein Tipp: Frage dein Pferd und gehe nicht nach der Mode, die sowieso beide Richtungen propagiert. Was wählt das Pferd? Womit geht dein vierbeiniger Freund am zufriedensten?

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      Hündin Bonita, Dion und Ute.

      Wenn Reiter erleben, dass ihr Pferd besonders „gut“ – das bedeutet schnell und leicht − auf ein Signal reagiert, glauben manche, dass das Pferd die Zäumung mag, da sich das Reiten „leichter“ anfühlt. Es ist dann wichtig, sich die Sache objektiv vom Boden aus anzusehen und den Ausdruck des Pferdes und die Positionierung von Kopf und Hals in den Übungen miteinzubeziehen. Dies tun wir dem Pferd zuliebe, damit wir nicht, geblendet von dem guten Respons, übersehen, dass das Pferd vielleicht einem harten, unangenehmen Druck ausweicht und daher weniger Kontakt mit dem Zügel sucht.

      Ich habe oft Reiter sagen hören, das Pferd gehe so gut mit dem neuen Gebiss. Manchmal ist das der Neuheitswert, weil sich das Signal einfach anders anfühlt und daher Aufmerksamkeit erregt. Manchmal ist es auch ein dünneres oder unflexibleres Gebiss, das mehr Druck ausübt, oder ein anderes Material, das Aufmerksamkeit auslöst.

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      Dass Pferde alles, was sie in den Mund nehmen, aus Reflex als Futter klassifizieren, bezweifle ich ein wenig. Mehrere unserer Pferde tragen Sachen durch die Gegend, spielen mit Leder oder Stoff, sammeln Gerten und Handschuhe auf oder kauen und zupfen am Zaundraht, wenn dieser aus Versehen mal keinen Strom führt. Die Herde steht das ganze Jahr über im Offenstall zusammen: fünf Pferde auf sechs Hektar Wiese und Spielfläche – mit unbegrenztem Zugang zu Heu und Zweigen.

      Dass eines dieser Pferde zum Beispiel einen Strick aufsammelt, komplett durchkaut und wieder ausspuckt, ist meiner Meinung nach kein Versehen. Das Pferd denkt nicht, dass dies etwas Essbares wäre: Es macht das aus Spaß und aus Neugierde. Pferde haben einen fantastisch ausgeprägten Geruchssinn und ein feines Gespür in den Maulhaaren. Sie sind durchaus in der Lage, Nahrung, die gegessen wird (Speichelproduktion), von Spielzeug, das eben nur gründlich untersucht oder herumgetragen wird, zu unterscheiden. Zwei unserer Pferde spielen oft mit Stöcken, die sie aufsammeln und herumschleudern, und manchmal zieht sogar ein Pferd an jedem Ende des Stocks.

      Wir haben auch eine alte Boje als Spielzeug auf der Koppel, die plötzlich eines Abends großes Interesse hervorrief, als eines der Pferde sich eine kleine Show für die anderen ausdachte: So sah es auf jeden Fall von Weitem aus. In Wirklichkeit hat es ihm wohl einfach Spaß bereitet.

      Woodstock,