Vorwort
Mit diesem Buch möchte ich gern alle Pferdefreunde unterstützen, die in ihrem Trainingsbereich nach neuen Möglichkeiten suchen.
Zu der Frage, ob mit oder ohne Gebiss geritten werden soll oder kann, gibt es einen großen Diskussionsbedarf, und ich möchte hier auf sachlicher Ebene zu dieser Diskussion beitragen. Mir ist es dabei ein besonderes Anliegen, Möglichkeiten anzubieten und Alternativen aufzuzeigen. Denn häufig ist ein Grund für die Unzufriedenheit der Mangel an Alternativen.
Ich glaube nicht, dass es uns dient, die „anderen“ zu beschimpfen und uns selbst auf die Schulter zu klopfen. Zu viel (Selbst-)Bestätigung kann mitunter auch zu einer Stagnation führen, einem Sich-nicht-Weiterentwickeln. Nur mit Verständnis gegenüber den Einsichten und Überzeugungen anderer können wir alle Alternativen sehen und uns verändern, wenn wir dafür bereit sind. Den anderen erleichtert diese Haltung, sich nicht ständig schützen oder Widerstand leisten zu müssen.
Viele Alternativen in unserer Trainings- und Kommunikationswerkzeugkiste zu sammeln ist sehr wichtig. Denn:
Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.
Abraham Harold Maslow (1908−1970)
Eines der Probleme in der Diskussion über das Reiten mit oder ohne Gebiss ist die sogenannte falsche Dichotomie. Dabei wird eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten als Notwendigkeit dargestellt, obwohl weitere Entscheidungsmöglichkeiten existieren. Ein paar kleine Beispiele dafür:
Person A zu Person B: „Dir gefällt es nicht, dass ich meine Pferde in der Box halte? Dann findest du es wohl in Ordnung, wenn Pferde auf sumpfigen Koppeln bis zum Bauch im Matsch stehen und dort, im kalten Wind frierend, verhungern müssen?“ Person C zu Person D: „Du findest es nicht richtig, dass ich mein Pferd mit Gebiss reite? Dann bist du wohl eine von diesen Hippiereiterinnen, die mit ihren Pferden nur gebisslos herumjuxen und sie damit kaputtreiten?“
Person E zu Person F: „Du magst meine gebisslose Zäumung nicht und reitest mit Gebiss? Dann zerrst du wohl die ganze Zeit deinem Pferd im Maul sägend den Kopf hinter die Senkrechte, sodass das Pferd weder atmen noch sehen kann?“
Diese unangemessenen Reaktionen zeugen von wenig hinterfragtem Wissen und hinterlassen den Betroffenen perplex. Es wird in diesem Fall kein Weg zur Verständigung gebahnt und der Graben zwischen den Fronten wird tiefer. Hintergrundwissen und Fakten sind nicht die einzigen Kriterien – wir können aber keine sachlichen Diskussionen führen, wenn wir keine fundierten Informationen haben.
Die Informationen und das fachliche Hintergrundwissen, das ich in diesem Buch mit den Lesern teilen möchte, basieren sowohl auf unzähligen individuellen Erfahrungen mit Pferden und deren Menschen als auch auf zahlreichen Kursen und Fortbildungen in allen Bereichen der Haltung und des Trainings von Pferden.
Im Lauf der letzten 20 Jahre, in meiner Tätigkeit als Vollzeittrainerin und Instrukteurin, habe ich jeden Tag etwas Neues gelernt. Einen kleinen Teil davon möchte ich hier wiedergeben.
Mit Respekt Ute Lehmann
Der Schlüssel zu jeder Form von Ausbildung liegt im Respekt vor dem Schüler.
Dies gilt sowohl für zwei- als auch für vierbeinige Schüler.
Ralph Waldo Emerson
Die grosse Freiheit
Für viele Reiter symbolisiert das Reiten ohne Gebiss mehr Freiheit − ein Loslassen von Kontrolle und Zwang. Die Traumvorstellung von einem entspannten Galopp über Wiesen und Felder oder am Strand entlang am losen Zügel beinhaltet oft auch das Idealbild, mit so wenig Ausrüstung wie möglich reiten zu können − vielleicht ganz ohne Sattel und Zaumzeug, auf jeden Fall ohne Gebiss.
Gebisslos reiten macht Spaß und ist eine schöne Alternative für die meisten Pferde. Abwechslung im Training kann Pferd und Reiter mit neuen Herausforderungen wieder frische Energie geben. Oft erlebe ich, dass ein Wechsel der Ausrüstung das Pferd motiviert, wieder genauer hinzuhören, und den Reiter ermutigt, neue Wege auszuprobieren.
Schon lange hat auch mich diese Form des Reitens fasziniert. In besonderer Erinnerung steht ein Bild, das ich 1984 in einer Zeitschrift fand: Peter Kreinberg auf Indian Chief’s Smoke, einem seiner wunderbaren Araber-Pintos in wunderschöner Aufrichtung und Versammlung in einer kalifornischen Hackamore mit einer Mecate aus Pferdehaaren. Dieses Bild habe ich nie vergessen – es hing, aus einer Zeitschrift ausgeschnitten, jahrelang an meiner damaligen Teenager-Pinnwand.
Irish Cob Saphir mit Kim im See.
Aus Tradition
In vielen Arbeitsreitweisen werden die Pferde während der traditionellen Ausbildung teilweise gebisslos geritten. Vermutlich stammt dieses Wissen von wertvollen Erfahrungen: Man nutzt die Zäumungen, die in der Ausbildung am besten funktionieren. Das Gespür für das Pferd war sicherlich nicht bei allen traditionellen Trainern gleich gut ausgeprägt. Dennoch hat sich eine sinnvolle Tradition im Hinblick auf die gewählte Ausrüstung im Ausbildungsverlauf herausgebildet.
Interessant ist beispielsweise in der Vaquero-Tradition, dass hier die Zeit des Zahnwechsels berücksichtigt wird und die Pferde oft erst mit dreieinhalb Jahren angeritten werden. Gestartet wird mit einfachem Snaffle oder mit Wassertrense. Erst ein Jahr später, mit circa viereinhalb Jahren, wird auf die klassische Hackamore (Bosal plus Mecate) umgestellt − also erst, wenn die drei vorderen Backenzähne gewechselt sind (siehe Abschnitt „Zähne“, Seite 30 f.). Danach wird mithilfe des Bosals wieder zum Gebiss umgestellt − zur Kandare, die als Krönung am Schluss einhändig und am losen Zügel das Pferd formt.
Viele Westernreiter reiten junge Pferde mit Sidepull oder Bosal (siehe Seite 42 f.). Sie können ihre jungen Pferde (bis fünfjährig) auch auf dem Turnier im Bosal vorstellen.
Die traditionelle Ausbildung in Spanien beginnt mit der Serreta (siehe Seite 42) auf der Pferdenase – später dann in Kombination mit einer Kandare und zuletzt auf blanker Kandare. In Frankreich übernimmt das Caveçon eine ähnliche Aufgabe. Hier sieht man oft die Guardians, die Hirten der Camargue, mit Kandare und Caveçon reiten: Manchmal sind die Pferde mit einem stehenden Martingal am Caveçon ausgebunden, um zu verhindern, dass das Pferd bei schnellen Wendungen und hartem Zügelanzug den Kopf hochreißt.
Innerhalb der Rasse der Peruanischen Pasos und vieler anderer Gangpferde werden die Pferde erst mit vier Jahren gebisslos mit dem peruanischen oder kolumbianischen Bosal eingeritten. Die Bosalphase dauert circa ein Jahr, und danach wird umgestellt auf Kandare − erst mit vier Zügeln, zuletzt ohne Bosal.
Das neue Wissen
Viele moderne Trainer verwenden gebisslose Zäumungen in bestimmten Phasen der Ausbildung