Reiten ohne Gebiss. Ute Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ute Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783958477056
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      Heute haben wir Zugang zu einem enormen Wissen um die vielen Vorgänge im Körper des Pferdes. Wir können röntgen, mit Ultraschall diagnostizieren, sezieren und obduzieren. Wir präparieren ganze Skelette, prüfen und überwachen Organfunktionen, definieren und studieren Epiphysenfugen und stellen erstaunt fest, dass die weichen Knorpel in der Wirbelsäule des Pferdes doch erst im Alter von fünf bis sechs Jahren vollständig stabil verknöchert sind. Basierend auf diesen Untersuchungen wird es zum Beispiel heutzutage manchen Pferden zugestanden, erst körperlich fertig zu reifen, bevor sie ein Reitergewicht tragen müssen.

      Aufgrund der vielen negativen Episoden der letzten Zeit − vom Missbrauch der traditionellen Ausrüstung bis hin zu grotesken Bildern von Pferden mit aus Sauerstoffmangel blau angelaufenen Zungen oder blutenden Mundwinkeln − gibt es einen weltweiten Boom hin zum gebisslosen Reiten. Viele Pferdebesitzer möchten sich gern, verständlicherweise, deutlich von jenen Schreckensszenarien distanzieren.

      Auf vielen Ebenen wird dafür gekämpft, eine Zulassung für gebisslose Zäumungen auf nationalen und internationalen Turnieren durchzusetzen. In den Niederlanden ist dies seit April 2014 bereits erlaubt – hoffentlich folgen andere Länder bald diesem guten Beispiel!

      Die Ablehnung dieser Zulassung durch die FEI ergibt keinen Sinn, haben doch einige sehr angesehene Dressur- und Springreiter schon gezeigt, dass es auch ohne Gebiss geht. Beispielsweise zeigen die französische Grand-Prix-Reiterin Alizée Froment auf dem Lusitanohengst Mistral du Coussoul und natürlich die deutsche Grand-Prix-Reiterin Uta Gräf mit ihrem Holsteiner Hengst Le Noir fantastische Präsentationen fehlerfreier Grand-Prix-Lektionen – ohne Gebiss.

      Die wissenschaftlichen Studien von Andrew McLean (PhD Equine cognition and learning) zeigen, dass die Lernfähigkeit des Pferdes fällt, je höher sein Stressniveau ist. McLean beschreibt in vielen Studien und publizierten Artikeln, wie wichtig es ist, dass das Training stetig auf eine leichtere Hilfengebung hinzielt, um das Pferd zur Mitarbeit anzuregen und dafür zu belohnen.

      Das neue Wissen kann so einen sinnvollen, pferdegerechten Zugang fördern – wenn wir es nutzen. Es ist von großer Bedeutung, dass wir mit Herz und Gefühl an die Sache herangehen − ohne die wissenschaftlichen Fakten aus den Augen zu verlieren. Für alle Pferdebesitzer, die ihre Freizeit harmonisch mit ihrem Pferd zusammen verbringen möchten, ist es wichtig, beständig Informationen einzuholen und bestehende Traditionen zu hinterfragen.

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      Meine Pferde gehen alle gebisslos in allen Gangarten auf dem Platz, im Wald und am Strand – manche auch ganz ohne Zäumung oder mit Halsring. Oft reite ich mit Schnurhalfter am losen Zügel – oder mit Kappzaum oder Cavamore, wenn ich Stellungs- und Biegungsarbeit machen möchte.

      Alle meine Pferde können aber auch mit Gebiss geritten werden. Ich benutze jedoch konsequent keinen Nasenriemen in Kombination mit einem Gebiss, da mir damit unter anderem der Vorteil verloren ginge, dem Pferd volle Bewegungsfreiheit im Kiefergelenk zu ermöglichen. Eine Ausnahme ist die Ausbildungsphase, in der ich von Gebiss auf gebisslos (oder umgekehrt) umstelle, da ich hier ein Halfter oder einen Kappzaum zusammen mit dem Gebiss gebrauche.

      Der Start mit einer gebisslosen Zäumung macht dem Pferd das Leben viel leichter – kennen doch alle Pferde die Signale des Stallhalfters. Eine Zäumung, die ähnliche Signale gibt wie das Halfter, ist daher ein wertvolles Werkzeug für das Einreiten von jungen Pferden. Diese müssen anfangs sehr viele Eindrücke verarbeiten. Daher ist es sinnvoll, das Gewöhnen an ein Gebiss nicht in der gleichen Trainingsperiode anzugehen.

      Es ist toll, einen entspannten Ausritt – vielleicht mit Handpferd − zu machen, bei dem beide Pferde am Halfter laufen. Wir können Pause machen und die Pferde können Gras fressen, unterwegs ein paar wilde Hagebutten von den Sträuchern am Wegrand zupfen oder ein paar kleine Birkenzweige abbeißen. Auch das Trinken am See ist einfacher ohne Gebiss im Maul.

      Die Pferde laufen am losen Zügel, in freier Kopf- und Halshaltung, und das Herz geht mir auf, wenn ich auf der langen abgemähten Waldwiese die Zügel von beiden Pferden vor mir auf den Sattel legen kann und beide weiter im ruhigen Galopp nebeneinanderher laufen.

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      Galopp mit Handpferd.

      Zur Abwechslung im Training und natürlich auch, falls physisch bedingt ein Reiten mit Gebiss nicht infrage kommt (bei Zungen- oder Kieferverletzungen zum Beispiel), ist das gebisslose Reiten eine tolle Alternative. Ich denke, dass man ein Pferd durchaus sein Leben lang gesund gebisslos reiten kann, wenn man das möchte. Das setzt voraus, dass der Reiter mit viel Gefühl und Erfahrung und unter fachkundiger Anleitung eines erfahrenen Reitlehrers das Pferd in einer korrekten entspannten Haltung reiten kann. Das ist natürlich genauso der Fall beim Reiten mit Gebiss. Es gibt nur leider noch nicht so viele Reitlehrer, die den Schülern fachkundige Hilfestellung beim gebisslosen Reiten geben können.

      Dem Pferd zuliebe ist es wichtig, dass wir uns offen und neugierig umsehen. Wir sollten anderen erzählen, wie und warum wir unsere Pferde reiten und ausbilden, ohne dass es darum geht, wer „recht hat“. Man muss nicht die anderen davon überzeugen, dass die eigene Reitweise die bessere ist. Es geht darum zu erklären, welche Besonderheiten die eigene Reitweise hat und warum sie diese hat. Und es geht auch darum, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Mut zu machen, einmal etwas Neues auszuprobieren.

      „Pferdefreundliche Ausrüstung“ wird vielerorts angepriesen, und es scheint mir, dass dieser Trend eine Schattenseite haben könnte. Bei der Recherche für dieses Buch bin ich auf eine Unzahl von Produkten gestoßen, die mit Beschreibungen wie „Dein Pferd wird es dir danken“ oder „Die softe Alternative“ Käufer anlocken wollen − und es auch tun. Wir können Zäumungen mit den Namen „Anemone“, „Lilie“ und „Jasmin“ erwerben und sogar eine „gebisslose, zwanglose Sidepull-Zäumung“ – was ist wohl eine zwanglose Zäumung? Eine ohne Krawatte?

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      Ute auf Saphir: mit Halsriemen und Pfeil und Bogen.

      Doch „wenn der gewünschte Effekt nicht erreicht wird“, kann man Hebelarme zum Anschrauben zukaufen. Man geht also davon aus, dass das Pferd einfach nur mehr Druck (nicht etwa mehr Training) braucht, um (gefälligst) zu reagieren.

      Die Beschreibung „konsequent gewaltfrei“ wird gleichgesetzt mit dem bloßen Einkauf oder der Anwendung eines Kopfstücks – als ob man mit diesem Teil nicht auch Gewalt ausüben könnte. Ein anderer Hersteller verspricht, dass sein Produkt „Unbehagen durch sanften Druck ersetzt, ohne dass der Reiter die Führung verliert“. Ich muss also nur eines dieser Wundergeräte kaufen, und schon bin ich soft, sanft und „zwanglos“ unterwegs und habe obendrein auch noch die Führung übernommen?

      Die psychologischen Auswirkungen einer solchen Anschaffung können jedoch leider negative Folgen für das Pferd haben. Beispielsweise zeigen Untersuchungen, dass wir eher bereit sind, einer momentanen Laune nachzugeben, wenn wir zuvor etwas „Gutes“ getan haben (Kelly McGonigal, The Willpower Instinct). Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass unser Entschluss, beständig an unserer Zügelführung zu arbeiten, dem Pferd mehr Zeit zu geben und geduldiger zu werden, dadurch beeinträchtigt wird, dass wir gerade eine „softe“ Zäumung für viel Geld gekauft haben.

      Darüber hinaus sehe ich leider häufiger Reiter, die frustriert und kräftig am Zügel ziehen, weil das Pferd jetzt mit dieser super pferdefreundlichen gebisslosen