Im Dunkeln können wir lauschen. Das Leben im Mutterleib abzuhören war 200 Jahre lang ein wichtiger Bestandteil der Geburtshilfe. Das schlichte Stethoskop und sein moderner Verwandter, das Ultraschallgerät, wurden beide von Geburtshelfern erfunden. 1816 entwickelte René Laënnec das Stethoskop. Es war ihm unangenehm, dass er sein Ohr auf den Brustkorb einer Frau legen musste, um ihr Herz abzuhören, und so erfand er ein Hörrohr. Laënnec und seine Kollegen erkannten, dass die neue Erfindung ihnen auch ermöglichte, den Herzschlag eines ungeborenen Kindes abzuhören. Die ersten Berichte über die kindliche Herzschlagfrequenz stammen aus dem Jahr 1821, von Laënnecs Schüler Jean-Alexandre Le Jumeau de Kergaradec (Wulf 1985). Das Y-förmige Stethoskop tauchte 1851 auf und hat sich seither nicht sehr verändert. Damit kann man den Herzschlag eines Babys ab der 22. Schwangerschaftswoche hören, allerdings in Abhängigkeit von der Lage im Mutterleib (und je nachdem, wie laut die Geräusche im Bauch der Mutter sind). Mit einem Stethoskop könnte man sogar feststellen, ob es Zwillinge werden.
Die Messung der fötalen Herzfrequenz und ihrer Variation gibt den Ärzten Aufschluss über den Gesundheitszustand des Fötus. Die Herzfrequenz wird durch zwei komplementäre Systeme geregelt, das sympathische und das parasympathische Nervensystem. Das sym pathische Nervensystem steigert die Herztätigkeit, und das parasympathische hemmt sie. Normalerweise befinden sie sich im Gleichgewicht, und die Herzfrequenz geht mal herauf und dann wieder zurück. Ein sehr schneller oder sehr langsamer Herzschlag oder auch fehlende Variabilität können für Ärzte ein Warnsignal sein.
Der Pionier beim Einsatz von Ultraschall in der Gynäkologie war Ian Donald, Geburtshelfer am Glasgow Royal Maternity Hospital. Er wusste, dass hochfrequente Schallwellen in der Industrie zum Einsatz kamen, um Fehler bei Schweißnähten und Verbindungen zu entdecken, und fragte sich, ob das nicht auch bei Gewebe funktionieren könnte. 1955 besuchte er den Anlagenbauer Babcock & Wilcox in Glasgow. Donald brachte zwei Wagenladungen medizinische Proben mit und stellte fest, dass der industrielle Ultraschall anomale Signale von Tumoren und Zysten aufspüren konnte. Zusammen mit seinen Kollegen baute er ein eigenes Gerät und begann mit dem Einsatz in der Diagnostik. Ihre Erkenntnisse fassten sie 1958 in einem Artikel für die Medizinzeitschrift The Lancet zusammen (Donald, Macvicar und Brown 1958). Damit lösten sie eine Revolution in der medizinischen Diagnostik aus.
Ultraschall und die Aufzeichnung der Herzschlagfrequenz sind die beiden wichtigsten Säulen bei der Überwachung der Entwicklung des Fötus. Entwicklungsforscher wie ich nutzen diese Verfahren, um festzustellen, was Babys im Mutterleib erleben. Dank der Herzfrequenzmessung können wir sagen, wenn ein Fötus durch etwas überrascht wird. Mit dem Ultraschall sehen wir, wie ein Fötus sich als Reaktion auf Geräusche, Bewegungen oder andere Reize bewegt. Zusammen mit dem, was wir über die Biologie des heranwachsenden Fötus wissen, ergibt sich ein Bild, was ein Fötus im Mutterleib lernen kann.
Der Ultraschall zeigt uns, dass der Zellklumpen, der einmal das Herz wird, bereits in der sechsten Woche nach der Empfängnis schlägt. Zu dem Zeitpunkt ist der Embryo so groß wie eine Linse, aber Ohren, Mund und Nase sind bereits zu erkennen. Augen und Nasenlöcher sind nur zwei schwarze Pünktchen, Arme und Beine kleine Stummel, Finger und Zehen durch eine Art Schwimmhäute verbunden. Doch ein sechs Wochen alter Embryo bewegt sich bereits als Reaktion auf Berührungen im Bereich von Mund und Nase. Das sind einfach nur Reflexe, aber sie zeigen, dass das Nervensystem sich langsam ausbildet. Wir bekommen eine Vorstellung, warum Babys die Welt erkunden, indem sie alles in den Mund stecken.
Die Frucht des Leibes
In den nächsten beiden Wochen verdoppelt sich der Embryo bis zur Größe einer Heidelbeere, und dann verdoppelt er sich noch einmal bis zur Größe einer Himbeere (an Früchten und Gemüse orientierte Maßeinheiten scheinen der Standard in allen Babybüchern zu sein, die jemals geschrieben wurden). Um die 10. oder 11. Woche herum hat die kleine Erdbeere regelmäßige Schlaf- und Wachphasen. Die meiste Zeit ist der Mutterleib ein Schlafzimmer. Während der Schwangerschaft verbringt der Fötus über 90 Prozent seiner Zeit schlafend. Die Schlafphasen dauern rund 40 Minuten, es folgen wenige Minuten Aktivität, die im Lauf der Zeit mehr werden. Im Erdbeerstadium sind die Bewegungen minimal, aber eindeutig anstrengend, denn ab der 11. Woche kann man beobachten, dass der Embryo im Mutterleib gähnt (Joseph 2000).
Die 13. Woche ist das Pfirsichstadium, und eine gute Zeit beginnt. Das erste Trimester ist vorbei, ein Drittel der Schwangerschaft geschafft, der Embryo hat sich so weit entwickelt, dass wir ihn von nun an als Fötus bezeichnen. Die ersten willkürlichen Bewegungen kommen um die 16. Woche vor, wenn der Fötus ungefähr 11,5 Zentimeter groß ist, so groß wie eine Avocado. In den Wachphasen macht der Fötus Turnübungen. Jetzt ist er eindeutig als Mensch erkennbar mit einem großen runden Kopf und winzig kleinen Fingern und Zehen.
Die fötale Entwicklung ist nicht einfach nur der Prozess, der von einem heidelbeergroßen Klumpen zu einem munteren Baby führt. Die stetige Verwandlung in dieser Zeit ist nicht weniger dramatisch als die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling. Es teilen und vermehren sich nicht einfach Zellen, sondern ihre Funktionen verändern sich, sie wandern im Körper an unterschiedliche Stellen, wo sie unterschiedliche Rollen erfüllen. Die Heidelbeere hat noch kiemenartige Strukturen, aus denen der Kiefer wird, und einen Schwanz, aus dem das Steißbein wird. Die meisten inneren Organe sind erst in der 20. Woche voll ausgebildet, und Nervenzellen wandern und verbinden sich noch nach der Geburt.
Wie bereits gesagt, wird die werdende Mutter die ersten Regungen irgendwann zwischen der 16. und der 20. Woche spüren (Avocado bis kleine Banane). In der Zeit findet üblicherweise die zweite Basis-Ultraschalluntersuchung statt. Der Arzt oder die Ärztin schaut sich den Fötus genau an, ob sich alles so entwickelt wie erwartet. Auf modernen Ultraschallbildern kann man das Geschlecht des Kindes erkennen, wenn man weiß, wonach man suchen muss. Wahrscheinlich schläft der Fötus während der Untersuchung, aber wenn er sich bewegt, kann es eine hübsche Überraschung geben. Im März 2015 gingen Jen Hazel und ihr Ehemann zur Ultraschalluntersuchung in der 14. Woche zu ihrem Arzt in Olympia im Bundesstaat Washington. Während der Untersuchung klatschte der Fötus – ein Mädchen – in die Hände. Jen schildert die Szene:
Wir kamen zum Ultraschall, und das Baby auf dem Monitor klatschte dreimal in die Hände. Ohne Musik, einfach so. Und mein Arzt sagte: »Singen wir doch mal was.« Mein Mann hielt seine Videokamera bereit, und der Arzt zeigte die Ultraschall aufnahme noch mal mit dem dreimal Klatschen, und wir sangen dazu: »If you’re happy and you know it [clap your hands].«
Sie singen nicht besonders gut – Jen muss zu sehr lachen, und ihr Mann ist offensichtlich nicht textsicher –, aber es ist ein herrliches Video. Nachdem sie es auf YouTube hochgeladen hatten, verbreitete es sich verständlicherweise viral. Bis zu dem Zeitpunkt, da ich das hier schreibe, hat es zwölf Millionen Klicks bekommen.
Kann ein 14 Wochen alter Fötus glücklich sein? Damit sind wir beim Kern dessen, um was es in diesem Kapitel geht. Gibt es eine Zeit vor dem Lächeln? Wann fangen Glücklichsein und Zufriedenheit an? Gibt es beides von Anfang an, oder beginnen die Emotionen erst irgendwann nach der Geburt? Jens Tochter Pip kam ohne Probleme und gesund zur Welt. Sie ist ein glückliches, verspieltes Baby und liebt Musik immer noch. Aber wie sah es aus, als Pip ein zitronengroßer Fötus von 14 Wochen war? War sie glücklich, und wusste sie es? Konnte sie es wissen? Eine einzelne befruchtete Eizelle, eine Zygote, weiß nichts von Glück und kann es nicht zeigen, genauso wenig der kleine Zellklumpen in der Blastozyste oder auch der gähnende erdbeergroße Embryo. Aufgrund vieler Erzählungen von Eltern in meiner Studie zu lachenden Babys glaube ich fest, dass ein erst wenige Wochen altes Baby echte Zufriedenheit zeigen kann. Aber wann geht es los? Wann ist ein Lächeln wirklich ein Lächeln?
Es gibt keine Untersuchungen über Freude bei Föten. Tatsächlich wüsste man nicht, wo man anfangen sollte. Aber Schmerz bei Föten ist ein guter Wegweiser zu Freude. Freude und Schmerz laufen über ähnliche Schaltkreise, und es gibt immer mehr Hinweise, dass ein Fötus am Ende des zweiten Schwangerschaftsdrittels, ungefähr in der 24. oder 25. Woche nach der Empfängnis, rudimentäre Schmerzempfindungen hat. Das Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) veröffentlichte 2010 eine