Arminuta. Donatella Di Pietrantonio. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Donatella Di Pietrantonio
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956142734
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besorgt, als erwachte sie plötzlich aus einem Traum. »Papa hat schon Schulden. Und wo ist Mama eigentlich abgeblieben?«

      Nach dem Mittagessen war sie mit dem Kleinen verschwunden, ohne uns Bescheid zu sagen. Vielleicht war sie bei irgendeiner Nachbarin hängen geblieben.

      »Unsere Eltern haben uns aber kein Geld dagelassen«, begann meine Schwester, sich dem Mann gegenüber zu rechtfertigen, der mithilfe des üblichen Rattenschwanzes an Gassenkindern etliche Kartons heraufgetragen hatte. Sie enthielten zwei Garnituren farbige Bettwäsche, eine wollene Steppdecke und eine leichtere Decke. Alles schien nur für eines der zwei Betten übereinander bestimmt zu sein. Außerdem noch Toilettenseife, mein Lieblingsshampoo und eines gegen Läuse, das konnte ich hier vielleicht brauchen. Und ein Pröbchen des Parfüms meiner Mutter, sie hatte bemerkt, dass ich ihr morgens, bevor ich zur Schule ging, immer ein paar Tropfen stibitzte.

      »Die Ware ist schon bezahlt. Ich brauche nur noch die Unterschrift eines Erwachsenen als Quittung.«

      Adriana übernahm es, die unsichere Schrift des Vaters nachzuahmen. Als wir wieder allein im Zimmer waren, fragte sie mich, ob sie oben schlafen dürfe, dann unten, dann noch mal oben. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und kletterte die Leiter rauf und runter, um verschiedene Positionen auszuprobieren. Das alte, klapprige Bettgestell und die übel riechende Matratze schleppten wir auf den Treppenabsatz.

      »Ich habe Angst, dass ich die neue Matratze vollmach.« »Sie hat auch ein undurchlässiges Gummituch gekauft.

      Nimm du es.«

      »Wer hat was gekauft?«

      In diesem Augenblick kam die Mutter heim, auf ihrer Schulter baumelte der Kopf des schlafenden Kindes. Sie war gar nicht erstaunt über die Neuigkeit, die Adriana ihr sofort zeigen wollte, indem sie sie an der Bluse hinzog. Verärgert über die Begeisterung der Tochter, betrachtete sie mit stumpfer Geringschätzung erst das Bett und den Rest, dann mich.

      »Das schickt dir diese zimperliche Zicke von Tante. Wer weiß, was du über uns erzählt hast. Gestern hab ich am öffentlichen Fernsprecher mit ihr geredet, Signora Adalgisa hat mich von Ernesto zur Cantina rufen lassen.«

      Das Privileg, hinter einem Wandschirm auf fabrikneuen Matratzen zu schlafen, hat sich schon am ersten Abend gegen mich und Adriana gewendet. Die Jungen versteckten sich hinter dem Dingsda, so nannten sie es, und erschreckten uns, indem sie plötzlich mit einem Schrei heraussprangen. Sie warfen es mehrmals um, und im Lauf einer Woche war die Bespannung der drei Flügel an mehreren Stellen zerrissen. Sie steckten die Köpfe durch die Löcher und kreischten laut. Machtlos wohnten meine Schwester und ich der Zerstörung unserer keinen separaten Welt bei, unsere Proteste nutzten nichts, und die Eltern griffen nicht ein. In den Jahren als Einzelkind hatte ich nicht gelernt, mich zu verteidigen, hilflos und wütend musste ich die Angriffe über mich ergehen lassen. Es war seltsam, dass Sergio, wenn er vor mir auftauchte, nicht von meinen stummen Flüchen getroffen tot umfiel.

      Nur Vincenzo beteiligte sich nicht an dem Schabernack; genervt von ihrem Radau, schrie er die Brüder manchmal an, sie sollten endlich aufhören. Nachdem wir den mittlerweile unbrauchbaren Wandschirm in den Abstellraum hinuntergetragen hatten, sah er mich abends und morgens beim Aufwachen lange an, als hätte ihm der Blick auf meinen Körper gefehlt. Wegen der anhaltenden Hitze dieses endlosen Sommers waren wir weiterhin spärlich bekleidet.

      In dem Bett, das Adriana so begeistert hatte, konnte sie weder oben noch unten schlafen, wir wechselten die Plätze andauernd. Zu unterschiedlichen Zeiten kam sie und schmiegte sich an mich, egal, wo ich schlief. Aber Wachstuch gab es nur eines, und so tränkte Adriana unfreiwillig die neuen Matratzen alle beide.

      11

      In einer dieser Nächte starb meine Mutter vom Meer im Obergeschoss des Stockbetts. Sie sah nicht krank aus, höchstens etwas grauer als gewöhnlich. Doch irgendwann begann das haarige Muttermal, das wie eine angewachsene Raupe auf ihrem Kinn saß, ganz allmählich zu verblassen. Innerhalb weniger Minuten verlor es jede Farbe, bis es mit dem dunklen Weiß rund herum verschwamm. Die Luft hörte auf, ihre Brust zu heben, und das Auge wurde starr.

      Zur Beerdigung begleitete mich die andere Mutter. Arme Adalgisa, arme Adalgisa, wiederholte sie händeringend. Doch dann jagten die anderen sie fort, sie trug Helancastrümpfe voller Laufmaschen, so ungepflegt durfte sie nicht an der Trauerfeier teilnehmen. Allein stand ich nun vorne, einzige Tochter der Verstorbenen, hinter mir eine ununterscheidbare Gruppe schwarzer Gestalten, die der Zeremonie beiwohnten. Die Totengräber ließen den Sarg in das frisch ausgehobene Loch hinab, die Seile ächzten bei der Reibung an den Kanten unter dem Gewicht. Ich musste dem Rand der Grube zu nah gekommen sein, das Gras gab unter meinen Füßen nach, und ich stürzte auf sie, auf das Holz, das sie umschloss. Reglos lag ich da, wie betäubt und vielleicht unsichtbar. Der Pfarrer sprach einen eintönigen Segen, bespritzte auch meinen Körper mit Weihwasser. Dann das Geräusch der Schaufeln, die begannen, die aufgehäufte Erde wieder zurückzuwerfen, taub für meine Schreie. Zuletzt packte mich jemand fest am Arm.

      »Wenn du nicht endlich aufhörst zu kreischen wie ’ne Verrückte, schmeiß ich dich ausm Fenster«, drohte Sergio und schüttelte mich im Dunkeln.

      Ich konnte nicht mehr einschlafen. Mit dem Blick folgte ich der kalten Reise des Mondes, bis er sich hinter der Mauer verbarg.

      Der Albtraum war der Gipfel meiner nächtlichen Ängste. Wenn ich vor Müdigkeit kurz eingenickt war, schreckte ich plötzlich wieder auf mit der Gewissheit, dass ein schreckliches Unglück bevorstehe, aber welches? Ziellos irrte ich durch mein lückenhaftes Gedächtnis, bis die Krankheit meiner Mutter mir schlagartig wieder zu Bewusstsein kam und in der Dunkelheit unaufhaltsam schlimmer wurde. Tagsüber konnte ich sie zügeln, an eine Genesung, an meine anschließende Rückkehr nach Hause glauben. Nachts ging es ihr immer schlechter, bis sie im Traum starb.

      Später kletterte für einmal ich zu Adriana hinunter. Sie wachte nicht auf, verschob nur die Füße, um mich in unserer gewohnten Lage aufzunehmen; ich aber wollte meinen Kopf neben ihren auf das Kissen legen. Ich umschlang sie, um mich zu trösten. Sie war so klein und knochig und roch nach fettigen Haaren.

      Wie als Kontrast tauchten aus meinen Erinnerungen die Locken von Lidia auf, wie rote Blüten zwischen den Laken. Die jüngste Schwester meines Carabiniere-Vaters war zu jung, um sie Tante zu nennen. Einige Jahre hatten wir zusammen im Haus meiner Eltern gewohnt, sie gehörte zu den frühesten Erinnerungen an jene Räume. Ihr Zimmer lag am Ende des Flurs, schmal und eng, aber mit Blick auf die Wellen. Am Nachmittag erledigte ich rasch meine Schulaufgaben, und dann hörten wir im Radio Schlager. Sie hatte ständig Liebeskummer und sang mit der Faust auf der asthmatischen Brust untröstlich die Strophen voller Herzschmerz mit. Ihre Familie hatte sie aus ihrem Dorf zum Bruder geschickt, damit sie die salzige Meeresluft atmete.

      Wenn wir allein waren, zog sie einen Minirock und Schuhe mit Plateausohlen an, die sie im Schrank versteckt hatte, und drehte den Plattenspieler zu voller Lautstärke auf. Im Esszimmer tanzte sie Shake, zuckte und schüttelte sich mit geschlossenen Augen von oben bis unten. Wer weiß, wo sie das gelernt hatte, nach Sonnenuntergang durfte sie nicht mehr ausgehen, doch manchmal kletterte sie heimlich aus einem Fenster im Erdgeschoss. Ich wollte sie jeden Abend bei mir haben, denn immer, wenn ich am Einschlafen war, juckte es mich am Rücken an bestimmten unzugänglichen Stellen. Lidia kam, kratzte mich und blieb dann auf dem Bett sitzen. Mager, wie ich war, zählte sie meine Wirbel und erfand zu jedem eine Geschichte. Den am weitesten vorstehenden gab sie Namen und ließ sie Gespräche führen wie alte Damen, indem sie bald den einen, bald den anderen berührte.

      »Sie nehmen mich«, sagte sie eines Tages beim Heimkommen.

      So verlor ich sie ein paar Jahre vor meiner Rückgabe an das große Kaufhaus. Eines Morgens waren wir früh zum Einkaufen gegangen, und während ich ein T-Shirt mit Fischen und Seesternen anprobierte, fragte sie eine Verkäuferin, ob sie mit der Abteilungsleiterin sprechen könne. Die käme erst später, hieß es. Wir warteten. Sobald sie uns in ihrem schmucklosen Büro empfing, zog Lidia ein Sekretärinnen-Diplom aus der Tasche und fragte, ob sie eine Arbeit für sie hätten, egal, welche. Sie saß vor dem Schreibtisch, und ich stand neben ihr, ab und zu streichelte sie meinen Arm.

      Sie