Im anderen Zimmer war das Baby zu der Tasche mit meinen Schuhen gekrabbelt und hatte sie rund um sich verstreut. An einem kaute es, den Mund bitter verzogen. Adriana kniete auf einem Stuhl am Küchentisch und putzte schon grüne Bohnen für das Mittagessen.
»Du schmeißt viel zu viel weg«, kam pünktlich der Vorwurf.
Sie achtete nicht darauf.
»Wasch dich, dann gehen wir Milch kaufen, ich hab Hunger«, sagte sie zu mir.
Ich war die Letzte im Bad. Die Jungen hatten Wasser auf dem Boden verspritzt und waren hin und her gelaufen, man sah die Abdrücke von Schuhsohlen und nackten Füßen. Bei mir zu Hause hatte ich nie so schmutzige Fliesen gesehen. Ich rutschte aus, ohne mir wehzutun, wie eine Tänzerin. Im Herbst würde ich bestimmt nicht wieder zum Ballettunterricht gehen, und auch nicht zum Schwimmen.
6
Ich erinnere mich an einen Vormittag damals am Anfang, ein fahles Licht kündigte durchs Fenster das Gewitter an, das sich später entladen würde, wie an den anderen Tagen. Rundherum herrschte seltsame Ruhe, Adriana war mit dem Kleinen zu der Witwe im Erdgeschoss hinuntergegangen, und die Jungen waren alle weg. Ich war mit der Mutter allein zu Hause.
»Rupf das Hühnchen«, befahl sie mir und streckte mir das tote Tier hin, das sie an den Krallen hochhielt, mit baumelndem Kopf. Jemand musste es ihr heraufgebracht haben, ich hatte sie auf dem Treppenabsatz reden hören, und zum Schluss hatte sie sich bedankt. »Und dann nimmst du’s aus.«
»Was? Das verstehe ich nicht.«
»Ja, willst du’s etwa so essen? Du musst ihm doch erst die Federn ausrupfen, oder? Danach schneidest du’s auf und holst das Gedärm raus«, erklärte sie mir, wobei sie ihren ausgestreckten Arm leicht schüttelte.
Ich machte einen Schritt rückwärts und wandte die Augen ab.
»Das schaffe ich nicht, da graust mir. Ich kann dafür sauber machen.«
Sie sah mich an und verstummte. Mit einem gedämpften Klatschen knallte sie das tote Tier auf das Ablaufbrett am Spülbecken und fing an, wütend die Federn auszureißen.
»Die kennt Hühnchen einfach nur gebraten«, hörte ich sie zwischen den Zähnen murmeln.
Ich begann eifrig zu putzen, das war nicht schwer. Mit anderen Hausarbeiten kannte ich mich nicht aus, ich war nicht daran gewöhnt. Lange bearbeitete ich den länglichen Kalkfleck am Boden der Wanne mit dem Schwamm, dann drehte ich den Wasserhahn auf, um ein Bad einzulassen. Mit kaltem Wasser, das heiße funktionierte nicht, und ich wollte nicht fragen. Aus der Küche kam ab und zu das Geräusch zerhackter Knochen, während ich weiter über den schmutzigen Sanitäranlagen schwitzte. Zuletzt verschloss ich die Tür von innen mit dem Eisenhaken und stieg in das Wasser. Als ich die Hand nach der Seife auf dem Wannenrand ausstreckte, fühlte ich, dass ich gleich sterben würde. Das Blut wich mir aus dem Kopf, den Armen, der Brust, alles wurde eiskalt. Mir blieben nur noch Augenblicke für ein paar Notwendigkeiten: den Stöpsel ziehen und Hilfe rufen. Ich wusste nicht, wie ich die Aufmerksamkeit der Frau drüben auf mich lenken sollte, es gelang mir nicht, sie Mama zu nennen. Anstelle der Buchstabenfolge aus M und A spuckte ich saure Milchklümpchen in das abfließende Wasser. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr an ihren Namen, selbst wenn ich ihn hätte aussprechen wollen. Also schrie ich und fiel dann in Ohnmacht.
Nach ich weiß nicht wie langer Zeit weckte mich der trockene Geruch von Adrianas Pipi. Mit einem Handtuch zugedeckt, lag ich nackt auf dem Bett. Auf dem Boden daneben stand ein leeres Glas, wahrscheinlich war Zuckerwasser drin gewesen, das Heilmittel, das die Mutter bei allen Krankheiten anwendete. Später schaute sie zur Türe herein.
»Kannst du’s nicht gleich sagen, wenn’s dir schlecht wird, statt das Schlimmste abzuwarten?«, fragte sie kauend.
»Entschuldige. Ich dachte, es geht vorbei«, erwiderte ich, ohne sie anzusehen.
Ich habe sie nie gerufen, über Jahre. Seit ich ihr zurückgegeben worden war, steckte mir das Wort Mama im Hals wie eine Kröte, die nicht mehr heraus konnte. Wenn ich dringend mit ihr reden musste, versuchte ich auf verschiedene Weise, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Manchmal, wenn ich das Baby auf dem Arm hatte, kniff ich es in die Beine, damit es weinte. Daraufhin drehte sie sich zu uns herum, und ich konnte mit ihr sprechen.
Lange hatte ich diese kleinen Quälereien vergessen, die ich meinem Bruder angetan hatte, und erst jetzt, da er über zwanzig ist, sind sie mir zufällig wieder eingefallen. Ich saß neben ihm auf einer Bank in dem Ort, wo er nun lebt, und bemerkte einen blauen Fleck auf seiner Haut, der genauso aussah wie die, die ich ihm damals zufügte. Diesmal hatte ihn die Kante eines Möbelstücks erwischt.
Beim Abendessen waren alle ganz aufgeregt wegen der Neuigkeit mit dem Huhn, Adriana fragte sich, ob Weihnachten jetzt im Sommer sei. Ich war hin- und hergerissen zwischen Hunger und Ekel, weil ich das Huhn aufgeschlitzt gesehen hatte, mit den Eingeweiden, die zwischen den schmutzigen Frühstückstassen ins Spülbecken hingen.
»Ein Schenkel für Papa und einen für die da, weil sie heute in Ohnmacht gefallen ist«, entschied die Mutter. Aber die anderen Stücke waren viel kleiner und knochiger, nachdem die Brust für den folgenden Tag aufgehoben worden war. Der, den sie Sergio nannten, protestierte sofort.
»Wenn sie krank ist, soll sie Brühe essen und nicht den Schenkel«, empörte er sich. »Den krieg ich, ich hab heute der von oben beim Umzug geholfen, und dann hast du auch noch das Geld kassiert, das ich verdient hab.«
»Und außerdem hast du wegen der die Badtür kaputt gemacht«, warf ein anderer ein und schüttelte den Zeigefinger in meine Richtung. »Die baut hier nur Mist, könnt ihr sie nicht zurückgeben?«
Mit einem Schlag auf den Kopf brachte der Vater ihn zum Schweigen und drückte ihn mit der flachen Hand wieder auf seinen Platz.
»Ich hab keinen Hunger mehr«, murmelte ich Adriana zu und flüchtete in das Zimmer, wo wir schliefen. Sie kam nach einer Weile nach, mit einer Scheibe Brot mit Öl. Sie hatte sich gewaschen und umgezogen und trug einen zu kleinen Rock.
»Beeil dich, iss das rasch auf und zieh dich an, wir gehen aufs Fest.« Sie hielt mir den Teller unter die Nase.
»Was für ein Fest?«
»Von unserm Heiligen, was sonst? Hast du nicht die Kapelle gehört? Und auf der Piazza fangen sie jetzt grad zu singen an. Aber so weit gehn wir nicht, Vincenzo bringt uns bis zum Karussell«, flüsterte sie.
Keine halbe Stunde später glänzte die Fischgräte an Vincenzos Schläfe im Schein der Lichter auf dem Platz, wo die Zigeuner ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Als einziger von den Jungen hatte er mich beim Streit um den Hühnerschenkel nicht angegriffen, und er hatte seine Brüder auch nicht aufgefordert mitzukommen, nur ich und Adriana durften mit. Er zählte sein wer weiß wie aufgetriebenes Kleingeld und unterhielt sich ein bisschen mit dem Kartenverkäufer; man sah, dass sie sich kannten, vielleicht von den Festen der vergangenen Jahre. Sie rauchten zusammen, wirkten wie Altersgenossen und hatten die gleiche braune Haut. Für die ersten Runden nahm der Zigeuner Geld, danach ließ er uns umsonst fahren.
Ich war noch nie Karussell gefahren, meine Mutter fand, es sei zu gefährlich, der Sohn einer Freundin von ihr hatte sich im Autoscooter den Daumen gequetscht. Adriana, schon Expertin, half mir, auf den Sitz zu klettern, und schloss den Sicherheitsbügel.
»Halt dich an den Ketten fest«, ermahnte sie mich, bevor sie sich vor mich setzte.
Ich flog zwischen ihr und Vincenzo, sie nahmen mich in die Mitte, damit ich keine Angst hatte. Am höchsten Punkt spürte man eine Art Glücksgefühl, was mir in den letzten Tagen passiert war, war am Boden geblieben wie ein schwerer Nebel. Ich schwebte drüber weg und konnte es sogar eine Weile vergessen. Nach ein paar Proberunden kam plötzlich von hinten ein Stoß mit dem Fuß und der Ruf: »Schnapp dir den Schwanz!« – doch der Schwung meines Arms war zu lasch, ich traute mich nicht, die Kette richtig loszulassen.