Ich gehorchte ihm nicht, sondern leistete weiter Widerstand. Da schlug er mit der Faust aufs Lenkrad und stieg aus, um mich aus dem engen Fußraum vor dem Sitz zu zerren, wohin ich mich zitternd verkrochen hatte. Er schloss die Tür auf und packte mich am Arm, die Schulternaht des Kleides, das er mir gekauft hatte, riss ein paar Zentimeter auf. In seinem Griff erkannte ich den wortkargen Vater nicht wieder, mit dem ich bis zu jenem Morgen zusammengelebt hatte.
Auf dem Asphalt blieben die Reifenspuren zurück, und ich. Es roch nach verbranntem Gummi. Als ich den Kopf hob, schaute im zweiten Stock jemand von meiner Zwangsfamilie aus dem Fenster.
Nach einer halben Stunde kam er zurück, ich hörte es klingeln und dann seine Stimme auf dem Treppenabsatz. Augenblicklich verzieh ich ihm und griff freudig und beschwingt wieder nach meinem Gepäck, doch als ich an der Türe war, verklangen seine Schritte schon unten im Hauseingang. Meine Schwester hielt einen Becher Vanilleeis in der Hand, meine Lieblingssorte. Darum war er gekommen, nicht, um mich mitzunehmen. Das Eis haben die anderen gegessen, an jenem Nachmittag im August 1975.
4
Gegen Abend kamen die größeren Jungen heim, einer begrüßte mich mit einem Pfiff, ein anderer bemerkte mich gar nicht. Schubsend stürmten sie in die Küche, um einen Platz am Tisch zu ergattern, wo die Mutter das Abendessen auftrug. Mit Sugo spritzend füllten sie sich die Teller, an meiner Ecke kam nur ein schwammiges Fleischklößchen mit etwas Soße an. Innen war es hell, bestand aus eingeweichtem, alten Brot und wenigen Fleischkrümeln. Wir aßen Brotklößchen und dazu noch mehr in die Soße getunktes Brot, damit der Magen etwas zu tun hatte. Einige Tage später würde ich beim Kampf um das Essen mithalten und auf meinen Teller aufpassen können, um ihn gegen die Luftangriffe fremder Gabeln zu verteidigen. Aber an jenem Tag verlor ich das bisschen, das die Hand der Mutter zu meiner kargen Ration hinzugefügt hatte.
Erst nach dem Abendessen fiel meinen ersten Eltern ein, dass es in der Wohnung gar kein Bett für mich gab.
»Heut Nacht schläfst du bei deiner Schwester, ihr seid ja dünn genug«, sagte der Vater. »Morgen schaun wir mal.«
»Damit wir beide reinpassen, müssen wir verkehrt rum liegen«, erklärte mir Adriana, »der Kopf der einen an den Füßen der anderen. Aber vorher waschen wir sie uns«, beruhigte sie mich.
Wir tauchten sie in dieselbe Schüssel, sie schrubbte ewig, um den Schmutz zwischen den Zehen zu entfernen.
»Pah, ist das Wasser schwarz«, lachte sie, »das waren meine Füße, deine waren eh sauber.«
Sie beschaffte mir ein Kissen, dann gingen wir ins Kinderzimmer, ohne das Licht anzuknipsen, die Jungen atmeten schon wie Schlafende, und der Schweißgeruch war penetrant. Flüsternd legten wir uns Kopf an Füße zurecht. Die mit Schafwolle gefüllte Matratze war weich und vom Gebrauch verformt, ich sank zur Mitte hin ein. Sie roch nach Ammoniak von dem vielen Pipi, das sie durchtränkt hatte, ein für mich neuer, abstoßender Geruch. Die Schnaken suchten nach Blut, und ich wollte mich besser zudecken mit dem Laken, doch Adriana zog in die entgegengesetzte Richtung.
Ein plötzliches Zucken ihres Körpers, vielleicht träumte sie herauszufallen. Vorsichtig nahm ich einen Fuß von ihr und legte meine Wange an die frisch mit billiger Seife gewaschene Sohle. Fast die ganze Nacht schmiegte ich mich an die raue Haut, passte mich den Beinbewegungen an. Ich spürte an meinen Fingern die unregelmäßigen Ränder ihrer gesplitterten Zehennägel. Mein Gepäck enthielt auch ein Nagelscherchen, das konnte ich ihr am nächsten Morgen geben.
Das letzte Viertel des Mondes erschien im offenen Fenster und zog vorbei. Zurück blieb die Sternenspur und das winzige Glück, auf dieser Seite einen nicht von Häusern verstellten Himmel zu haben.
Morgen schaun wir mal, hatte der Vater gesagt, doch dann vergaß er es. Adriana und ich fragten nicht nach. Jeden Abend lieh sie mir eine Fußsohle, um sie an meine Wange zu halten. Sonst hatte ich nichts, in dieser von Atem bevölkerten Dunkelheit.
5
Nasse Wärme breitete sich unter meinen Rippen und meiner Hüfte aus, ich sprang ruckartig auf. Ich fasste mir zwischen die Beine, es war trocken. Adriana bewegte sich im Dunkeln, blieb aber liegen. In eine Ecke gekauert, schlief sie wieder ein oder einfach weiter, als wäre sie daran gewöhnt. Nach einer Weile legte auch ich mich wieder ins Bett, machte mich so klein, wie ich konnte. Wir waren zwei Körper, die die Nässe umrahmten.
Ganz allmählich verdampfte der Geruch, nur ab und zu noch eine kleine, stinkende Wolke. Kurz vor Tagesanbruch bewegte sich einer der Jungen, ich konnte nicht erkennen, welcher, einige Minuten lang immer schneller stöhnend hin und her.
Am Morgen wachte Adriana auf und blieb mit offenen Augen still liegen, den Kopf auf dem Kissen. Dann sah sie mich einen Augenblick lang wortlos an. Das Baby auf dem Arm, kam die Mutter, um sie zu rufen, und schnupperte in der Luft.
»Du hast dich schon wieder vollgepisst, na prima. Damit sie dich sofort richtig kennenlernt.«
»Ich war’s nicht«, antwortete Adriana und drehte sich zur Wand.
»Ach, womöglich war’s deine Schwester, so gut wie die erzogen ist. Beeil dich, wir sind spät dran.« Damit verschwanden sie in der Küche.
Ich war nicht bereit, ihnen zu folgen, und außerdem konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich blieb stehen, mir fehlte sogar der Mut, ins Bad zu gehen. Einer der Brüder setzte sich breitbeinig im Bett auf. Mit einer Hand wog er gähnend seine geschwollene Unterhose. Als er mich im Zimmer bemerkte, runzelte er leicht die Stirn und begann, mich zu mustern. Sein Blick blieb an meinem Busen hängen, der nur von dem Unterhemd bedeckt war, das ich bei der Hitze statt des Pyjamas trug. Instinktiv verschränkte ich die Arme über der Schwellung, die mir erst kürzlich gewachsen war, während unter der Achsel der Schweiß austrat.
»Hast du hier drin geschlafen?«, fragte er mit einer unreifen Männerstimme.
Ich nickte verlegen, während er mich weiter ohne Scham betrachtete.
»Bist du schon fünfzehn?«
»Nein, noch nicht mal vierzehn.«
»Du siehst aber aus wie fünfzehn, sogar älter. Hast dich früh entwickelt«, sagte er abschließend.
»Wie alt bist du?«, fragte ich aus Höflichkeit.
»Fast achtzehn, ich bin der Älteste. Ich arbeite schon, aber heute bin ich nicht dran.«
»Warum?«
»Heute braucht der Chef mich nicht. Er ruft mich, wenn Not am Mann ist.«
»Als was arbeitest du denn?«
»Als Handlanger.«
»Und die Schule?«
»Tja, die Schule! In der zweiten Klasse Mittelschule bin ich abgegangen, sie hätten mich sowieso durchfallen lassen.«
Ich sah die von der Arbeit ausgeprägten Muskeln, die breiten Schultern. Ein kastanienbraunes Gekräusel kletterte seinen sonnenverbrannten Oberkörper hinauf und weiter bis ins Gesicht. Auch er musste schnell gewachsen sein. Als er sich dehnte, roch ich seinen männlichen Geruch, nicht unangenehm. Eine fischgrätenförmige Narbe zierte seine linke Schläfe, vielleicht eine alte, schlecht genähte Verletzung.
Wir sprachen nicht mehr, er betrachtete wieder meinen Körper. Ab und zu verschob er sein Geschlechtsteil mit der Hand so, dass es weniger auffiel. Ich wollte mich anziehen, hatte aber am Vortag meinen Koffer nicht ausgepackt, er stand noch nebenan; um ihn zu holen, hätte ich mich vor seinen Augen umdrehen und einige Schritte gehen müssen. Ich wartete, dass etwas geschah. Sein Blick glitt langsam an meinen mit weißer Baumwolle bedeckten Hüften hinunter bis zu den nackten Beinen, den verkrampften Füßen. Ich würde mich nicht umdrehen.
Die Mutter kam herein und sagte, er solle sich beeilen,