Bis in die Rigaer Zeit reichen Pläne Herders zurück, das prekäre „Ich“ der Moderne im Kontext der Wissenschaften und einer Universalgeschichte der Bildung der Welt darzustellen. Er habe nach einer Philosophie der Geschichte der Menschheit gesucht,13 wo immer er suchen konnte.
Wer bloß metaphysische Spekulationen will, hat sie auf kürzerm Wege; ich glaube aber, daß sie, abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur, eine Luftfahrt sind, die selten zum Ziel führet. Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat: sie sind das heilige Buch, aus dessen Charakteren ich zwar minder als ein Lehrling, aber wenigstens mit Treue und Eifer buchstabieret habe und buchstabieren werde. (6, 16)
In dieser Vorrede zum ersten Band der Ideen zur Philosophie der Geschichte vom 23. April 1784 kündigt Herder seinen Plan an, eine historisch-individualisierende Betrachtungsweise mit Hilfe der Analogie der Natur zu entwickeln. Sein Verständnis von Natur geht auf Spinoza zurück, den er in dieser Zeit gemeinsam mit Goethe studiert hat:
Die Natur ist kein selbstständiges Wesen, sondern Gott ist Alles in seinen Werken: indessen wollte ich diesen hochheiligen Namen, den kein erkenntliches Geschöpf ohne die tiefste Ehrfurcht nennen sollte, durch einen öftern Gebrauch, bei dem ich ihm nicht immer Heiligkeit genug verschaffen konnte, wenigstens nicht mißbrauchen. Wem der Name ‚Natur‘ durch manche Schriften unsres Zeitalters sinnlos und niedrig geworden ist, der denke sich statt dessen jene allmächtige Kraft, Güte und Weisheit, und nenne in seiner Seele das unsichtbare Wesen, das keine Erdensprache zu nennen vermag. (6, 17)
In Analogie zu den Veränderungen der Natur erweist sich der Mensch in Herders Entwurf einer Universalhistorie als das sich im Prozess der Geschichte ständig wandelnde Geschöpf, wie er es in seinem Ich-Gedicht dargestellt hat. Herder hat für seine zentralen Einsichten immer wieder Metaphern verwendet. So spricht er in Analogie zur Abfolge von Entwicklungsstufen von den menschlichen Lebensaltern. Die Ideen sind bis heute der umfassendste Versuch, durch weit ausgreifende Lektüre (u.a. von Reisebeschreibungen) alles Wissen vom Menschen, seiner Natur und Geschichte zu einem Gesamtpanorama zu formen. Intendiert war eine systematisch entwickelte Theorie von der Entwicklung des menschlichen Geschlechts im Gang der Geschichte.14
Der konsequente Rekurs auf Natur und Geschichte bedient sich bei der Wahl von Fakten und Anschauungsmaterial einer geschickt praktizierten Kombinatorik. Alles Theologische ist allerdings im Sinne der Suche nach einer minimalen Konsensbasis ausgespart – theologische Reste sind nur bei seinen Überlegungen zur Teleologie noch vorhanden.15 In einem Entwurf zu der frühen Arbeit Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit heißt es: „Glaube an Geschichte – durch Geschichte an Gott.“16
Wie Herder die Menschen auf der Erde und in ihrem Sonnensystem positioniert, zeigt der Beginn des Ersten Buches der Ideen mit der Überschrift: „Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen“:
Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt: so muß man sie zuförderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist. Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält. (6, 21)
Diese „Mittelpunktstellung“ des Menschen charakterisiert Herders Versuch, eine Philosophie der Geschichte zu schreiben, die eine Gesetzlichkeit der Ereignisse nachweist:
Bemerkenswert an diesen in die Ideen einführenden Gedanken ist die Tatsache, daß Herder die Position der Erde und dann auch des Menschen – im Widerspruch zum modernen Weltbild – als Mitte und schließlich sogar als Mittelpunkt der Schöpfung bestimmt. Antike Gedanken vom Menschen als Maß aller Dinge (Protagoras) und die biblische Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen verbinden sich, um das zu begründen, was Herder von nun an ‚Humanität‘ nennen wird.17
Eine der erstaunlichsten Folgerungen zieht Herder aus dem aufrechten Gang des Menschen und der damit gegebenen Vernunftfähigkeit:
Blick’ also auf gen Himmel, o Mensch! und erfreue dich schaudernd deines unermeßlichen Vorzugs, den der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Principium, deine aufrechte Gestalt knüpfte. Gingest du wie ein Tier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen Richtung für Mund und Nase geformt und darnach der Gliederbau geordnet: wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit unsichtbar in dich gesenket? (6, 129f.)
Ein Kapitel des II. Buches ist überschrieben: „Zurücksicht von der Organisation des menschlichen Haupts auf die niedern Geschöpfe, die sich seiner Bildung nähern.“ (6, 132) Daraus sei zu schließen: „Der Mensch ist zu feinern Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisieret.“ „Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organisieret.“ „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.“ (6, 136, 142, 145f.)
Angesichts des Stufengangs vom Menschen, „der zunächst ans Tier grenzt, bis zum reinsten Genius im Menschenbilde“, müsse man sich wundern, „welch einen langen Weg die Natur nehmen mußte, um die kleine, aufsprossende Blüte von Vernunft und Freiheit in uns organisierend vorzubereiten.“ (6, 147)
Unter zwei Aspekten zeichnet Herder seine Anthropologie aus: Zum einen geht es ihm um die Einbindung des Menschen in den Gesamtzusammenhang der Natur, was in den vorausgehenden Abschnitten illustriert wurde, zum andern hebt er die Auszeichnung des Menschen, seine besondere Stellung als „Krone der Schöpfung“18 hervor. Aber die angenommene Wesensverwandtschaft zwischen Tieren und Menschen bedeutet nicht, dass Herder eine Evolutionstheorie angenommen hätte. Er ist von der Abgeschlossenheit der Schöpfung überzeugt. Herder bemüht das Bild der Pyramide: Im stufenartigen Aufbau der Natur gehe eine stetige Veredelung von der simplen Pflanze über Insekten, Vögel, Fische, Amphibien und große Säugetiere bis hin zum Menschen vor sich. Je mehr sie sich der Stellung des Menschen nähern, verringerten sich die Gattungen, würden aber auch vollkommener. Um den Menschen gruppierten sich alle anderen Lebewesen in konzentrischen Kreisen: „Je näher ihm, desto mehr zog sie [die Natur] Classen und Radien zusammen, um in seinem, dem heiligen Mittelpunkt der Erdenschöpfung was sie kann, zu vereinen.“ (XIII, 71) Für den Menschen ist der ‚Stand der Gesellschaft‘ der Naturzustand. Wenn er auch das Meiste allein hervorbringen will, braucht er zur Entwicklung der Fähigkeiten doch die Anderen. ‚Kunst‘ ist ihm natürlich. Es kommt bei ihm alles auf die erlernte Fertigkeit, auf Vernunft und Kunst, an. Sein Selbstwerdungsprozess sei unabschließbar. Er bedarf dabei des Austausches mit seiner Umwelt: „Ohne Cultur war und ist der Mensch nicht etwa nur ein rohes Holz, ein ungeformter Marmor, sondern er ist und wird ein brutum.“ (XXII, 310) Abhängig vom Klima, der Beschaffenheit des Landes, dem Vorhandensein von Nahrung, aber auch von Geschichte, Religion, Mythologie und der Sprache eines Volkes und zahlreicher weiterer Faktoren bildet sich „das perspektivische Weltverständnis jedes Individuums“ aus.19 Wie im Ich-Gedicht kritisiert Herder die These von einer konstanten Menschennatur und vertritt eine
Anthropologie des kultur-variablen Menschen. Er kennt nicht nur eine sich wandelnde Geschichte, die den betrachtenden Menschen ein kaleidoskopartiges Schauspiel bietet, deren Akteure aber immer die gleichen bleiben, sondern der Mensch selbst wird in diesen Wandel hineingezogen: er ist das sich in der Geschichte wandelnde Wesen.20
Aber gleichzeitig wirkt die Natur und prägt dem Menschen ihre Gesetze auf:
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