Keuschheit und Selbsterkenntnis
Wer ein keusches Leben führen will, muss regelmäßig über sich selbst Rechenschaft ablegen. Das erfordert, sich über die eigene Sexualität im Klaren zu sein und an der persönlichen sexuellen Reife zu arbeiten. Darüber hinaus verlangt es, die eigene Geschlechtlichkeit in die Persönlichkeit zu integrieren, so dass der Mensch in der Lage ist, seine inneren Regungen und Bedürfnisse bewusst wahrzunehmen, sie zu reflektieren und angemessen mit ihnen umzugehen. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit im Umgang mit sich und mit anderen sind gefragt. Nur so können tragfähige Beziehungen aufgebaut und eingegangen werden. Die schonungslose Ehrlichkeit verhilft auch dazu, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn man bemerkt, dass man an seine Grenzen stößt und das eigene Leben Gefahr läuft, außer Kontrolle zu geraten.
Gerade im Blick auf das zölibatäre Leben heißt Selbsterkenntnis überdies, sich über die eigene Motivation bei der Berufswahl klarzuwerden. Der einmal eingeschlagene Weg ist immer wieder neu zu wählen und die eigene Entscheidung neu zu bekräftigen. Berufung ist kein einmaliger Vorgang an einem bestimmten Zeitpunkt des eigenen Lebens. Der göttliche Ruf und Anruf ist demgegenüber in Regelmäßigkeit neu zu vernehmen, um sein Leben danach auszurichten.
Wirkliche Selbsterkenntnis schenkt Klarheit über die eigene Rolle und Klarheit darüber, wer der andere als mein Gegenüber ist. Die innere Standortbestimmung ermöglicht, die diesem Gegenüber angemessene Verhaltensweise zu finden. Dies gilt umso mehr, als es in der Seelsorge oftmals schwer ist, professionelle Beziehungen von vertrauteren zwischenmenschlichen oder gar freundschaftlichen Beziehungen zu unterscheiden.14 Die rechte Nähe und die gebotene Distanz sind dabei stets neu zu vermessen und auszuloten. Keuschheit setzt eigene Grenzen und respektiert fremde Grenzen. Das schenkt innere Freiheit und stellt die Beziehungen zum anderen auf ein verlässliches Fundament. Respekt vor dem Geheimnis des anderen und Diskretion eröffnet den Raum der Ehrfurcht voreinander, innerhalb dessen Beziehungen zu wachsen vermögen und wirkliche Liebe sich vertiefen kann.15
Keuschheit und Macht
Der Missbrauchsskandal hat Kirche wie Gesellschaft neu dafür sensibilisiert, wie sehr asymmetrische Beziehungen anfällig sind für missbräuchliches Verhalten. Viele Situationen der Seelsorge weisen ein Machtgefälle auf und erfordern bei den Verantwortlichen eine besondere Sorgfaltspflicht. Mit Hilfe von Verhaltenskodizes wird im Sinne der Prävention ein Rahmen abgesteckt, der angemessene Verhaltensweisen normiert und zur Reflexion des eigenen Agierens anhält. Das enthebt jedoch nicht davon, sich selbst im Sinne der Keuschheit um besondere Sensibilität für die jeweilige Situation zu mühen. Gerade die Keuschheit weiß um die Verletzlichkeit besonders schutzbedürftiger Menschen. Von daher verbietet sie es sich, die Schwachheit anderer in unangemessener Weise auszunutzen und der Versuchung nachzugeben, deren Ausgeliefertsein schändlich zu missbrauchen. Im Gegensatz dazu versteht gerade der keusche Mensch die Verletzlichkeit anderer als Anruf zu besonderer Achtsamkeit. Das verlangt nach der Fähigkeit zu echter Empathie und liebevoller Fürsorge.
Keuschheit als Schule der Beziehungsfähigkeit
Die bisherigen Überlegungen haben eines deutlich werden lassen: Keuschheit ist die Grundlage echter Beziehungsfähigkeit16. Nur jener kann anderen wirklich selbstlos und im Sinne Christi dienen, der eine reife Persönlichkeit ausgebildet hat, um seine Bedürfnisse weiß, sie reflektieren kann und sie in seine Persönlichkeit integriert hat. Keuschheit hat demnach nichts mit prüder Verklemmtheit oder falscher Schüchternheit zu tun. Sie ist als Tugend die positive Grundhaltung, die einen wahrhaft menschlichen, personen- wie situationssensiblen Umgang ermöglicht. Wer ganz bei sich ist, kann auch ganz beim anderen sein. Beziehungen verbleiben dann nicht im Oberflächlichen oder auf der Ebene des rein professionell-seelsorglichen, sondern gewinnen Tiefgang, so dass Herz zu Herz sprechen kann, ohne in unangemessener Weise Grenzen zu verletzen.
Zu den besonderen Herausforderungen des zölibatär lebenden Priesters gehört sicher die Spannung zwischen der Verfügbarkeit gegenüber den Oberen einerseits und der Verpflichtung zur aufopferungsvollen Hingabe für die seiner Hirtensorge anvertrauten Menschen andererseits17. Falls es dem Einzelnen nicht gelingt, in diesem Spannungsgefüge eine wechselseitige Kommunikation aufzubauen, kann das zu einer falschen Spiritualisierung des Lebensideals führen. Sie zeigt sich darin, dass der Priester im Letzten sich selbst verhaftet bleibt, ohne sich dem jeweiligen Gegenüber wirklich zu öffnen. Trotz des tagtäglichen Einsatzes im doppelten Gehorsam gegenüber Bischof und Gemeinde fällt dann eine authentische Kommunikation aus, die für ein erfüllendes Leben unabdingbar ist. Verfügbarkeit geht auf Kosten echter Beziehungsfähigkeit. Das Ergebnis ist der „blutleere Kirchenbeamte“18, der zwar funktioniert, aber dem es nicht gelingt, andere Menschen zu erreichen. Über das Bemühen, sich im Dienst voll zu verausgaben, versäumt er es, für andere zur Gabe zu werden19.
Wenn Papst Franziskus dagegen von der „Revolution der Zärtlichkeit“20 spricht, dann meint er damit wohl genau diese notwendige, innere Zugewandtheit, die es ermöglicht, in der Seelsorge Menschen an sich heranzulassen, ihnen die eigene Aufmerksamkeit zu schenken und sich von ihrer Person wie auch ihrer Situation berühren zu lassen. Erst wo man „auf Augenhöhe“ zueinander findet, kann sich Wandlung ereignen21.
Keuschheit und Kontemplation
Die tiefen Erwägungen des Thomas von Aquin zur Keuschheit fasst Josef Pieper am Ende so zusammen: „Keuschheit (…) macht nicht nur zur Wahrheitsvernehmung fähig und bereit und also auch zu wirklichkeitsgerechter Entscheidung, sondern auch zu jener höchsten Form des Wirklichkeitsverhältnisses, in der ungetrübteste Erkenntnishingabe und selbstloseste Liebeshingabe eins sind: zur Beschauung (contemplatio), in der sich der Mensch dem göttlichen Sein zukehrt und der Wahrheit inne wird, die zugleich das höchste Gut ist.“22 Demnach bildet die geistige Haltung der Keuschheit die Voraussetzung echter Wahrheitserkenntnis. Der innerlich unverstellte Mensch vermag die Wirklichkeit ganz zu erfassen. Zugleich lässt er sich von dieser Wirklichkeit auch in die Pflicht nehmen, so dass sie ihm zur Richtschnur für sein eigenes Leben wird. Keuschheit und Kontemplation sind nicht voneinander zu trennen. Wer im Gebet des Geheimnisses des dreifaltigen Gottes und seiner sich selbstlos verschenkenden Liebe innewird, kann nicht anders, als selbst Maß zu nehmen an dieser Liebe, welche die Liebe ohne Maß ist23. „Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8).
Stete Umkehr zur Keuschheit
Keuschheit ist, wie erwähnt, nicht Enthaltsamkeit. Umgekehrt ist Enthaltsamkeit noch lange kein Garant für ein keusches Leben. Das wussten schon die Mönchsväter24. Die zölibatäre Lebensform allein kann daher nicht den Anspruch auf ein keusches Leben erheben. Die äußere Form muss auch gedeckt sein durch das persönliche Bemühen um Keuschheit. Keuschheit ist wie alle Tugenden kein bleibender Besitz. Um die Keuschheit muss man sich ein ganzes Leben lang mühen. Das bewahrt einen vor Überheblichkeit und wird zur beständigen Demutsübung.
Der heilige Josef hat im Sinne der caritas ordinata der Liebe zu Gott den ersten Platz eingeräumt und sein Leben ganz danach ausgerichtet. Er hat die Vaterrolle für Christus bereitwillig übernommen und war sich dennoch immer darüber im Klaren, wer er ist und wer er nicht ist. Mit großer Diskretion wusste er das Geheimnis Mariens zu wahren und blieb ihr Zeit seines Lebens in liebevoller Fürsorge zugetan, ohne sie bloßzustellen oder selbstgerecht dem Gerede der Menschen auszuliefern. Das göttliche Kind hat