8Obwohl bereits 1665 verfasst, wurde dieser Text in der jetzigen Form erst 1879 veröffentlicht. Eine Paraphrase tauchte unter dem Titel Le prédicateur de l’amour de Dieu 1799 auf. Hier folgen wir der neuesten Ausgabe: J.-J. Surin, Questions importantes à la vie spirituelle. Sur l’amour de Dieu. Texte primitif révisé et annoté par Aloys Potter et Louis Mariès. Paris 1930.
9Ebd., 6f.
10 Ebd., 22.
11 Ebd.
N
Bischof Franz Jung | Würzburg
geb. 1966, Dr. theol.,
seit 2018 Bischof von Würzburg
Keuschheit neu gelesen
Auf der Spur des hl. Josef
Die 150. Wiederkehr der Erhebung des Heiligen Josef zum Patron der katholischen Kirche nimmt Papst Franziskus in diesem Jahr zum Anlass, das Augenmerk besonders auf den Heiligen Josef zu lenken. Der Papst verfolgt damit die Absicht, „die Liebe zu diesem großen Heiligen zu fördern und einen Anstoß zu geben, ihn um seine Fürsprache anzurufen und seine Tugenden und seine Tatkraft nachzuahmen.“1 Unter den vielen Tugenden des Heiligen Josef soll im Folgenden die Aufmerksamkeit auf die Tugend der Keuschheit gerichtet werden. Ein schwieriges Unterfangen! Denn zum einen ist der Begriff Keuschheit längst aus unserer Alltagssprache verschwunden. Zum anderen „haftet ihr der Geruch des hoffnungslos Antiquierten, ja Lebensfeindlichen an“ (E. Kürpick).2 Darüber hinaus muss, wer das mit Keuschheit Gemeinte begreifen will3, eine Reihe von Missverständnissen benennen und beseitigen.
Eine Tugend in Misskredit
Keuschheit hat zunächst nichts mit sexueller Enthaltsamkeit zu tun. Diese falsche Gleichsetzung wurde über Jahrhunderte auch innerhalb der Kirche vorgenommen und kommt in der aszetischen Literatur immer noch und immer wieder vor. Die Identifizierung von Keuschheit und sexueller Enthaltsamkeit und deren weltfremde Überbetonung hat zu vielfältigen Karikierungen Anlass gegeben. Ihre Verherrlichung als überlegene (religiöse) Lebensform4 hat sie insgesamt in Misskredit gebracht, so dass viele Zeitgenoss(inn)en allein schon beim Hören des Begriffs „Keuschheit“ innere Aversionen gegen diese Tugend entwickeln5. Man mutmaßt, mit einem vorgestrigen Tugendmodell Herausforderungen heutiger Sexualethik ausblenden zu wollen, in der Sehnsucht nach einer vermeintlich heilen, abgeschlossenen religiösen (Sonder-)Welt.
Richtig verstanden, gehört eine keusche Gesinnung zu den Grundhaltungen aller, die in der Seelsorge tätig sind und tagtäglich mit Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen zu tun haben. Im Weihegebet zur Diakonenweihe findet diese innere Haltung Erwähnung: „Das Evangelium Christi durchdringe ihr Leben. Selbstlose Liebe sei ihnen eigen, unermüdliche Sorge für die Kranken und die Armen. Mit Würde und Bescheidenheit sollen sie allen begegnen, lauter im Wesen und treu im geistlichen Dienste.“6 Mit „selbstloser Liebe“, nachgehender, echter „Sorge“, „Würde und Bescheidenheit“ und vor allem mit dem Hinweis auf das „lautere Wesen“ und die „Treue im Dienen“ klingen bereits wesentliche Dimensionen der Keuschheit an. Nach einem kurzen Blick in die Ikonographie sollen diese deutlich werden.
Ikonographie
Die Ikonographie kennt die Darstellung des Heiligen Josef mit der Lilie, dem Lilienzepter oder dem blühenden Lilienstab. Im letztgenannten Motiv fließen ikonographisch zwei Traditionen ineinander. Hier ist zunächst die biblische Überlieferung vom blühenden Aaronstab zu nennen (Num 17,23), durch den die Erwählung Aarons von Gott bekräftigt wurde. Der blühende Stab lässt sich auch als Reminiszenz an das apokryphe Protoevangelium des Jakobus (ProtJak 8.3–9.1) verstehen. Dieser Überlieferung nach sammelte der Priester Zacharias alle Witwer Israels – unter ihnen auch Josef – mit der Auflage, einen Stab mitzubringen. An wessen Stab sich ein Wunderzeichen zeigte, der sollte Maria zur Frau bekommen. Schließlich blieb nur noch Josefs Stab übrig, aus dem eine Taube hervorging, die sich auf Josefs Haupt niederließ. Beide Traditionen dienen dem gleichen Zweck. Sie unterstreichen die Legitimität desjenigen, an dessen Stab sich eine wundersame Wandlung vollzieht. Die Lilie selbst gilt als Symbol der Reinheit und der Unschuld, als „Lilie unter Disteln“ (Hld 2,2). Seit alters steht die Lilie als Symbol für die keusche Gesinnung des- oder derjenigen, der oder die sie in den Händen hält. Josef selbst wurde in der Frömmigkeitsgeschichte geradezu als Personifikation der Keuschheit gesehen und als solche verehrt.
Eine Tugend für alle
Noch einmal: Die Tugend der Keuschheit ist nicht zu verkürzen auf sexuelle Enthaltsamkeit. Ebenso wenig ist Keuschheit generell auf den Bereich menschlicher Sexualität einzugrenzen, auch wenn diese sicher eine zentrale Konkretion keuschen Lebens darstellt. Keuschheit meint demgegenüber eine innere Grundhaltung in der Beziehung zu sich selbst, zum anderen und letztlich zu Gott. Sie zeichnet sich aus durch einen reflektierten und sensiblen Umgang, der der Würde des Menschen entspricht und diese Würde zur Geltung bringt. Die Tugend der Keuschheit geht daher jeden Menschen an, unabhängig von sexueller Orientierung und Lebensstand, verheiratet oder unverheiratet, ledig oder bewusst zölibatär lebend. Sie ist kein „Privileg“ der Priester und Ordenschrist(inn)en, auch wenn sich diese aufgrund ihrer zölibatären Lebensform und ihrer Gelübde in besonderer Weise von der Tugend der Keuschheit in die Pflicht genommen wissen.
Das rechte Maß
Die Tradition hat die Tugend der Keuschheit innerhalb der Kardinaltugend der temperantia, also des Maßhaltens, verortet. Denn Keuschheit bedeutet, das rechte Maß zu finden in Bezug auf die eigene Sexualität und Geschlechtlichkeit. Insofern hat die Tugend der Keuschheit nichts mit kirchlicher Verbotsmoral7 zu tun, auch wenn sie leider allzu oft genau hier thematisiert wurde. Das Mühen um die Tugend der Keuschheit gehört vielmehr in den Kontext der „Kunst des Liebens“ (E. Fromm)8. Sie ist ein ambitioniertes, lebenslang unabgeschlossenes Projekt.
Die Keuschheit hat die caritas ordinata9, die geordnete Liebe, im Blick. Seit frühester Zeit deutete die geistliche Überlieferung den Ruf der Braut aus dem Hohenlied Salomos „er hat in mir die Liebe geordnet“ (Vulgata Hld 2,4b: „ordinavit in me caritatem“) als Verweis auf Christus.10 In Ihm, dem „schönsten aller Menschen“ (Ps 45,3), findet die unendliche Liebessehnsucht des Menschen ihre Erfüllung. Von Christus her ordnet sich das menschliche Streben nach Erfüllung. Gemäß christlicher Anthropologie ist der Mensch von Beginn an auf ein Gegenüber angelegt und kommt erst im göttlichen wie einem menschlichen Gegenüber zur Erfüllung. Die Keuschheit bewahrt uns vor der Ansicht, wir wären uns selbst genug und die anderen dienten nur dazu, unsere Wünsche zu erfüllen.
Zur Illustration der Unkeuschheit bedient sich Thomas von Aquin eines Bildes aus dem Tierreich. Er vergleicht sie mit dem Blick des Löwen auf einen Hirsch: Der Löwe sieht den Hirsch nur durch sein Beuteschema. Die Eleganz und Schönheit des Hirsches vermag er nicht wahrzunehmen. In ihrem gierigen Zugriff verhindert Unkeuschheit also, die Wirklichkeit in ihrer Fülle und Schönheit zu sehen. Sie ist egoistische Brechung der eigenen Wahrnehmung und „schätzt“ die andere Person immer nur insofern, als sie der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse dient.11