Bei dem berüchtigten Vertrag zwischen Antonio und Shylock in Shakespeares Kaufmann von Venedig hat sich Antonio, für den Fall, dass er die entliehenen 3000 Golddukaten nicht termingerecht zurückzuerstatten vermag, Shylock gegenüber verpflichtet, ihm zu gestatten, ein Pfund Fleisch aus seinem (Antonios) Körper heraus zu schneiden25. Shakespeare lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sowohl die grausige Verpflichtung als auch der mörderische Anspruch formal zu Recht bestehen. Ob beabsichtigt oder nicht, es offenbart sich daran die Stärke der einem beliebigen Versprechen inhärierenden formgebundenen Verpflichtung in ihrer ganzen Radikalität.
Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob der widerliche Vertrag überhaupt rechtsgültig hätte geschlossen werden können. Im Theaterstück wird das Vertragsansinnen nicht expressis verbis verneint, sondern die «Rechtsgelehrte» Portia hebt hervor, dass (a) im Vertragstext nur von einem Pfund Fleisch ohne Blut die Rede ist26 [als ob das möglich wäre!] und (b) Shylock einen Prozess wegen Mordes, oder weil er dem Leben Antonios nachstellt, riskiere oder bereits auf sich gezogen habe27. Abgesehen von allen anderen gravierenden rechtlichen Unzulänglichkeiten der betreffenden Gerichtsfarce im Kaufmann von Venedig (man denke nur an die falsche Identität der «Rechtsgelehrten» Portia, an die faktische Ausschaltung des Richters sowie daran, dass die Einheit der Materie verletzt wird: denn zur Debatte steht die Erfüllung des Vertragsinhaltes, nicht die allfällige Verurteilung von Shylock), ist es ethisch und formaljuristisch stoßend, dass der Vertrag mit dem Pfund Fleisch an sich zwar als rechtsgültig angesehen wird, Shylock jedoch im Nachhinein wegen des Vertragsinhaltes verurteilt wird.
Sobald wir nämlich anerkennen, dass den Prinzipien der Unverletzlichkeit der Person und der Wahrung der Menschenwürde unbedingter Vorrang gebührt, derart, dass jedes Versprechen und jeder Vertrag ihnen unterzuordnen ist und ihnen zu genügen hat, wird einsichtig, dass der Vertrag zwischen Antonio und Shylock gegen die genannten Prinzipien sowie, ganz allgemein, gegen die guten Sitten verstoßen hätte – und somit im Vorhinein als nichtig hätte erkannt werden müssen28. Hieraus ersehen wir, von welch zentraler Bedeutung die Aufgabe ist, die genannten Prinzipien zu begründen, mithin zu klären und zu rechtfertigen – ein Thema, das Gegenstand des zweiten und des dritten Teiles der Urphänomene der Rechtssphäre sein wird.
Überblickt man das bis hierher Entwickelte, so veranschaulicht es uns zweierlei:
(i) Jedem Versprechen als solchem inhärieren begriffsimmanente Gesetzmäßigkeiten, sowohl was die Inhaltsform anbelangt als auch was das Zustandekommen und das Erlöschen des im Versprechen gründenden Anspruchs und der dazu gehörenden Verbindlichkeit betrifft. Wie die oben unter 3. gegebene Charakterisierung dessen, was mit dem Ausdruck ‹Versprechen› gemeint ist, gezeigt hat, sind die dem Gesamtphänomen des Versprechens wesenseigenen Zusammenhänge nicht abhängig von irgendwelchen externen Kategorien, seien es solche des positiven Rechtes oder allgemeiner Rechtsprinzipien, sittlicher Anschauungen bzw. anderweitig erlassener Gebote und Verbote – dies deshalb, weil wir dasjenige, was ein Versprechen ausmacht, erläutern können, ohne dass wir auf eine der genannten Kategorien zurückgreifen müssten.
(ii) Anders sieht jedoch die Situation aus, wenn wir vom reinen Begriff Versprechen zu einem beliebigen konkreten Versprechen übergehen. Hier gilt, dass es nicht ein einziges, von einem Versprechenden einwandfrei formuliertes und von dem jeweiligen Adressaten klar und deutlich vernommenes Versprechen gibt, für dessen Erwahrung in Rechtskraft nicht gezeigt werden müsste, dass Form und Inhalt des Versprechens den grundlegenden Rechtsprinzipien und sittlichen Anschauungen nicht widersprechen.
6. Bestimmungen positiven Rechts – im Widerspruch zu rechtlichen Urphänomenen?
Die faktische Rechtsgültigkeit eines Versprechens oder Vertrages wird nicht nur davon abhängen, ob der Inhalt, um den es geht, mit den in einer Rechtsgemeinschaft anerkannten grundlegenden Rechtsprinzipien vereinbar ist, sondern wird auch maßgeblich von den Bestimmungen tangiert, die in dem Corpus der Bestimmungssätze des positiven Rechts der betreffenden Gemeinschaft festgehalten worden sind. Reinach schreibt: «Wir haben gesagt, dass, wer Versprechen vollziehen kann, eben damit Verbindlichkeiten auf sich lädt. Wer ein Alter von 20 Jahren hat, kann gewiss Versprechungen aller Art vollziehen, und doch erwächst ihm aus ihnen nicht ohne Weiteres eine vollgültige positivrechtliche Verbindlichkeit; sie erwachsen, wenn der Adressat, in dessen Person der Anspruch allein entstehen kann, das Versprechen vernommen hat. In jedem Punkte scheint dem das positive Recht zu widersprechen. Ein vernommenes Versprechen, ein Darlehensversprechen z.B., begründet in der Regel keinen Anspruch, wenn es nicht in einem besonderen sozialen Akt angenommen ist; andere Versprechungen, z.B. das mündliche Versprechen, ein Haus zu verschenken, begründen, auch wenn sie angenommen sind, keinen Anspruch …»29. Wie also «kann man», fragt Reinach, «apriorische Gesetze mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit aufstellen wollen, wenn jedes positive Recht sich in den flagrantesten Widerspruch zu ihnen setzen kann?»30
Die Erklärung für die zahlreichen Diskrepanzen zwischen den Urphänomenen des Rechts und den Bestimmungssätzen des jeweiligen bürgerlichen Gesetzbuches einer gegebenen Rechtsgemeinschaft sieht Reinach darin, dass die Gesetzbücher nicht Behauptungen enthalten, deren Wahrheitsgehalt bei jedem konkreten Rechtsfall mit zu überprüfen ist, sondern schlicht bestimmen, was in einem gegebenen Fall rechtlich gelten soll31. Wenn, um wiederum ein Beispiel aus dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) heranzuziehen, zur Mündigkeit natürlicher Personen, unter Ziffer 14 des ZGB steht: «Mündig ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat»32 – so handelt es sich hierbei nicht um eine Behauptung wissenschaftlicher Observanz, die dem Kriterium der Falsifizierbarkeit standzuhalten hätte, sondern es ist ein Bestimmungssatz, der festlegt, wie es sein soll. Dies fällt besonders auf, wenn man den zitierten Wortlaut mit der früheren Fassung vergleicht, wo es unter der gleichen Ziffer 14 hieß: «Mündig ist, wer das 20. Lebensjahr vollendet hat. Heirat macht mündig»33. (Der zweite Satz wurde in der Fassung vom 7. Oktober 1994 aufgehoben.) Aus alldem werden auch die üblichen Redewendungen verständlich, mit denen man auf «Soll-Sätze» in den Gesetzbüchern verweist, so zum Beispiel: «Artikel 14 des ZGB hält fest, dass …»
Darüber, was ein rechtliches Urphänomen ist, kann und muss eine wissenschaftliche Debatte geführt werden. Sind jedoch die Wesensgesetze eines bestimmten Teilbereiches der Rechtssphäre erkannt worden und zeigt sich, dass die Bestimmungssätze eines gegebenen Gesetzbuches den aufgefundenen rein begrifflichen Zusammenhängen zuwiderlaufen, dann heißt dies nicht, dass es nun doch keine rechtlichen Urphänomene gebe, sondern, dass die betreffenden Gesetzgeber bei dem, was sie als sein-sollend festlegten, sich nach anderen Gesichtspunkten gerichtet haben. Da die Gesetzbücher ständig verändert werden, die rechtlichen Urphänomene hingegen von unabänderlicher Natur sind und ihnen der Charakter von Prinzipien zukommt, dürfen wir hoffen, dass eine klare, umsichtige Erkenntnis und Darstellung dieser Urphänomene sich allmählich auf das Rechtsempfinden einer namhaften Anzahl von Menschen auswirken. Damit einhergehend gäbe es eine Aussicht darauf, dass künftige Reformen der Gesetzbücher, der Rechtsprechung und des Rechtsvollzuges eine Richtung einschlagen, die das positive Recht – Schritt um Schritt – in ein harmonischeres Verhältnis zu den apriorischen Grundlagen der Rechtssphäre brächten. Dass eine derartige Entwicklung nur möglich ist, wenn unerschrockene, kämpferische Persönlichkeiten sich unablässig dafür einsetzen, versteht sich von selbst.
7. Verzichten – Ausüben eines absoluten Rechtes
Verzichtet der Adressat darauf, das zu beanspruchen, was ihm vom Versprochenhabenden zugestanden worden ist, so betritt er – wie ich ausführte – eine nur ihm zugängliche, übergeordnete Rechtsebene. Da sein Kontrahent von dieser Ebene völlig ausgeschlossen ist und auf seinen Entscheid keinen Einfluss nehmen kann, zerfällt dadurch die mit dem Versprechensakt entstandene Beziehung. In anderen Worten: Der auf die Realisierung seines Anspruches