Ohne von C dazu gedrängt worden zu sein, hatte ich den Satz (a) ausgesprochen und mich dadurch verpflichtet, das in Aussicht Gestellte zu erfüllen. C nahm meine Worte als ernst gemeintes Versprechen auf, und hat daraus den Anspruch hergeleitet, am darauf folgenden Tag das Buch entleihen zu können.
Wie das Beispiel illustriert, entstehen bei einem Versprechen Anspruch und Verbindlichkeit. Daher war es mir selbst peinlich, dass ich das Versprochene vergessen hatte, ein Versehen, welches ich mit dem diffusen: «Es tut mir leid …» zugab. Und deswegen ist es auch verständlich, dass C verärgert reagierte, hatte er doch zu Recht erwarten dürfen, das Buch in Empfang nehmen zu können.
3. Soziale Akte –
ihre Bedeutung für die Erwahrung eines Versprechens
Nachdem unser Einstiegsbeispiel gezeigt hat, was ein Versprechen impliziert, wollen wir im Folgenden unsere kleine Geschichte variieren, um der Frage nachzugehen, wie Versprechen zustande kommen und wirksam werden.
Variation Nr. 1: Hätte ich (a) nicht ausgesprochen, sondern mir den betreffenden Satz nur innerlich gesagt, so hätte ich mir zwar etwas vorgenommen, doch C gegenüber in keiner Weise explizit versprochen, und er hätte nichts von meinem stillen Entschluss erfahren. So wäre C weder veranlasst noch befugt gewesen, anzunehmen, er habe einen Anspruch darauf, dass ich ihm ein Buch brächte. Aller Voraussicht nach wäre C am folgenden Tag gar nicht in die Schule gegangen; das tat er – gemäß dem Ausgangsbeispiel – ja nur, weil er das von mir in Aussicht gestellte Buch abholen wollte.
Variation Nr. 2: Angenommen, ich hätte (a) ausgesprochen, doch C habe meine Worte zwar akustisch vernommen, aber deren Sinn nicht erfasst, und er sei zu verlegen gewesen, um mich zu ersuchen, das Gesagte zu wiederholen; darüber hinaus hätte ich selber nicht gemerkt, dass C meine Worten (d.h. den Satz (a)) nicht verstanden habe: Meinem eigenen Verständnis nach wäre ich dann C gegenüber eine Verpflichtung eingegangen; wohingegen C selbst von einem ihm zustehenden Anspruch, den ich zu erfüllen gehabt hätte, nichts gewusst hätte. Der nichts ahnende C wäre daher – aller Wahrscheinlichkeit nach – weder am folgenden Tag in der Schule erschienen, noch hätte er sich später bei mir nach dem Buch erkundigt. Da er sich meines Versprechens nicht bewusst gewesen wäre, hätte C sich auch nicht veranlasst gesehen, einen Anspruch auf die Verwirklichung der von mir geäußerten, aber nicht eingelösten Intention geltend zu machen. Damit wäre in mir das Bewusstsein allmählich erloschen, der – bzw. schon bald nur noch: einer – Verpflichtung nicht nachgekommen zu sein; und nach einer gewissen Zeitspanne hätte sich schließlich in mir die diffuse Erinnerung an ein eingegangenes Versprechen aufgelöst.
Variante Nr. 3: Diese ergibt sich, wenn wir annehmen, C habe meine Worte (a) nicht verstanden, ich aber sei im Glauben gewesen, er habe sie bewusst vernommen und deren Sinn erfasst; worauf ich ihm, einige Tage danach, das Buch ausgehändigt und dabei bemerkt hätte: (d) «Hier das versprochene Buch; zuerst hatte ich ja vergessen, es mitzunehmen, doch nun kann ich es Ihnen endlich aushändigen.» Hierauf könnte C erstaunt erwidern: (e) «Ich bin ganz überrascht; es war mir gar nicht bewusst, dass Sie mir gesagt hatten, Sie würden mir ein Buch über Stefan Zweig mitbringen und ausleihen …» – In diesem Falle würde mir wahrscheinlich blitzartig klarwerden, dass ich irrtümlicherweise geglaubt hatte, gegenüber C eine Verpflichtung eingegangen zu sein; wusste er doch offensichtlich gar nichts davon, dass ich ihm etwas versprochen hatte.
Überblicken wir das Ausgangsbeispiel und die drei skizzierten Abweichungen, so wird deutlich, dass ein Versprechen nur dann zustande kommt und wirksam wird, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind23:
1. Der Versprechende muss das, was er verspricht, klar und deutlich äußern (mündlich oder/und schriftlich);
2. Der Adressat des Versprechens muss das, wozu sich der Versprechende verpflichtet, inhaltlich erfassen.
Nur wenn diesen Forderungen zweifelsfrei Genüge getan wird, entsteht ein Versprechen sensu stricto, und erst daraus ergibt sich eine Verbindlichkeit des Versprechenden in Bezug auf den Adressaten bzw. erwächst diesem ein Anspruch gegenüber jenem. Somit ist das Zustandekommen eines Versprechens an einen sozialen Akt gebunden, an dem sowohl der Versprechende als auch der Adressat (der nicht notwendigerweise mit dem Begünstigten identisch zu sein braucht) beteiligt sein müssen.
Beide bisher besprochenen Komponenten eines Versprechens – nämlich, was es für die involvierten Rechtssubjekte grundsätzlich impliziert und wie es entsteht – gehören zu den wesentlichen Merkmalen des Rechtsbegriffes Versprechen und hängen nicht von irgendwelchen Bestimmungen positiven Rechtes ab.
4. Relatives und absolutes Erlöschen des Anspruches
Verpflichtung und Anspruch, die beide in dem vollständigen sozialen Akt eines rechtskräftig gewordenen Versprechens begründet werden, stellen Rechtsgebilde relativer Natur dar: der Versprechende hat sich in Bezug auf den Adressaten (und nur relativ zu ihm) verpflichtet; worauf Letzterem gegenüber Ersterem (aber keinem Weiteren) ein Anspruch erwachsen ist. Gleichwie das Entstehen dieses Rechtsgebildes sich aus dem Begriff Versprechen wesensgesetzlich, das heißt: von selbst, ergibt, ebenso gelten auch für das Erlöschen des dem Adressaten zugestandenen Anspruches strenge, begriffsimmanente Zusammenhänge. Auseinanderzuhalten haben wir dabei zwei grundsätzlich verschiedene Fälle:
(i) Der Versprochenhabende erfüllt die von ihm eingegangene Verpflichtung: dadurch wird das zwischen ihm und dem Adressaten geknüpfte Rechtsgebilde definitiv aufgehoben.
(ii) Der Versprechensadressat verzichtet auf den ihm zustehenden Anspruch. Indem er seinen Verzicht dem Versprochenhabenden bekanntgibt, entbindet er ihn von dessen Verpflichtung.
Während der Anspruch als solcher ein Recht darstellt, welches dem Adressaten nur erwächst, wenn der Andere ein Versprechen äußert, das der Adressat vernimmt und versteht, kommt diesem das Recht zu, auf die Erfüllung oder Einlösung des Anspruches zu verzichten, unabhängig von irgendwelchen Taten des Versprechenden. Daran zeigt sich, dass das Recht auf Verzicht von absoluter Natur ist24.
Auf der Seite des Versprechenden gibt es dazu – nach vollendetem Versprechensakt – nichts Äquivalentes. Versprach ich leichtsinnig einem Freund, ihm 1.000 CHF zu geben, wenn er schwimmend den Zürichsee von Horgen nach Meilen und wieder zurück in einem Zug und ohne Hilfsmittel überquere, und hat er das Versprechen vernommen, so kann ich mich selbst nicht davon entbinden. Eine Chance, mich von der eingegangenen Verpflichtung zu befreien, hätte ich allenfalls noch, wenn der Freund – nur zu nachsichtig – vor dem «Abgemacht!» noch ein «Im Ernst?» fallen ließe.
Bereits an diesem halb scherzhaften Beispiel zeigt sich, dass die bisher herausgearbeiteten Gesetzmäßigkeiten, die zum Gesamtphänomen eines Versprechens gehören, völlig unabhängig vom speziellen Inhalt des betreffenden Versprechens sind; wir haben sie vielmehr als unabdingbare Merkmale oder Inhaltsformen des Begriffes Versprechen anzusehen. Sie gelten für jedes Versprechen, sei nun dessen Inhalt ernst oder lächerlich, von hoher moralischer Qualität oder ethisch neutral oder tief verwerflich.
Aus diesem Grunde wird deutlich, dass wir ein konkretes Versprechen nicht für sich allein betrachten dürfen, sondern dessen Beziehungen zu anderen Aspekten der Rechtssphäre ermitteln und berücksichtigen sollten; dies auf die Gefahr hin, dass dadurch sowohl für den Versprochenhabenden die eingegangene Verbindlichkeit – als auch der dem Adressaten erwachsene Anspruch im faktischen sozialen Kontext ganz anders beurteilt werden muss, als wenn man das Versprechen (wie im Vorangegangenen geschehen) als isoliertes Phänomen analysiert. Dies soll an einem klassischen