Auch eine ganze Reihe moderner medizinischer Errungenschaften haben zu mehr oder weniger stark ausgeprägten Diskrepanzen in Wechselwirkung mit unserer Biologie geführt. So ist zum Beispiel die Exposition von Säuglingen gegenüber Milchersatznahrung als Austausch für Muttermilch ein klassischer evolutionärer Mismatch und wahrscheinlich mit einer erhöhten Rate an Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes im späteren Leben verbunden.18
Umgekehrt korreliert ausreichendes Stillen mit einem besseren Schutz vor Infektionen, weniger Gebissfehlstellungen und einer erhöhten Intelligenz der Kinder. Für stillende Frauen bietet das Stillen zudem einen erhöhten Schutz vor Brustkrebs und reduziert vermutlich auch das Risiko, an Eierstockkrebs und Typ-2-Diabetes zu erkranken.19 Nicht zu stillen, stellt also sowohl für das Kind als auch für die Mutter eine evolutionäre Diskrepanz im Sinne eines Mismatch dar.
Aus evolutionärer Sicht ist es auch nicht als »normal« anzusehen, dass wir in unseren Breiten 30 Prozent, in manchen Ländern sogar 55 Prozent der Kinder durch eine Kaiserschnittentbindung zur Welt bringen. Der Preis dafür: Eine nicht medizinisch notwendige Kaiserschnittentbindung könnte das Risiko für krankhaftes Übergewicht bei Kindern erhöhen.20 »Könnte« deshalb, weil hierzu derzeit eine zum Teil widersprüchliche Studienlage besteht.21
Was unsere körperliche Inaktivität betrifft, so ist die Mismatch-Situation schon auf den ersten Blick recht eindeutig. Nicht, dass unsere Vorfahren den ganzen Tag hindurch athletische Spitzenleistungen vollbracht haben. Eine gewisse »Muße-Präferenz« ist bei allen Menschen (und Tieren) festzustellen, denn mit den körperlichen Energiereserven maßvoll umzugehen, ist aus evolutionärer und physiologischer Sicht durchaus sinnvoll und vorteilhaft. Dennoch ist die menschliche Physiologie nicht gut an längere Inaktivitätsperioden (wie Sitzen während des ganzen Bürotages) angepasst, da die Sitzzeit das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die damit verbundene Sterblichkeit deutlich erhöht.22
Auch hier treffen wir gewissermaßen eine Kompromisslösung an. Einerseits sind Gesundheitsrisiken z. B. für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Sitzen im Allgemeinen mit einer Verringerung der Muskelkontraktionen und einer damit verbundenen Verringerung des Muskelstoffwechsels verbunden. Andererseits erscheinen diese mit Inaktivität verbundenen Gesundheitsrisiken auf den ersten Blick etwas paradox, da, wie bereits erwähnt, der evolutionäre Druck eigentlich dazu führen sollte, Strategien zur Minimierung der Energieausgaben zu bevorzugen.
Untersuchungen an dem Jäger- und Sammler-Volk der Hadza in Afrika haben vor Kurzem gezeigt, dass deren tägliches Inaktivitätsniveau durchaus mit dem von Menschen aus modernen Industrienationen vergleichbar ist. Allerdings, und hier liegt der gravierende Unterschied, verbringen sie erstens die restliche Zeit mit erheblich anstrengenderen körperlichen Tätigkeiten und zweitens besitzen sie keine Bürostühle oder andere Sessel. Denn selbst wenn sie sich in Ruhe befanden, verbrachten sie die »sitzende« Zeit sehr häufig in Körperhaltungen wie Hocken, die zu einer höheren Muskelaktivität in Ruhe führen als das Sitzen auf einem Stuhl. Vereinfacht kann man daraus ableiten, dass uns die Evolution nicht zu Büromenschen gemacht hat und dass auch Bürostühle und bequeme Fernsehsessel einen Mismatch darstellen, der auf lange Sicht seinen Gesundheitstribut fordert.23
Der Stamm der Hadza wird uns noch in zahlreichen Belangen dieses Buches öfters begegnen, wenn es darum geht, Einsichten zu unseren vermuteten früheren Lebensgewohnheiten als Jäger und Sammler zu erlangen.
Zwischenfazit Evolution
Wir haben nun schon einige ganz wesentliche Einsichten hinsichtlich unserer Anfälligkeit für Krankheiten gewonnen, die nicht ohne Weiteres auf der Hand liegen und auch in der Medizin nur unzureichend Berücksichtigung finden:
•Evolutionäre Kräfte wirken im Wesentlichen nur bis zum Abschluss der Reproduktionsphase bzw. werden Gene für bestimmte Eigenschaften vor allem dann positiv selektioniert, wenn sie die Zeugung und das Überleben der Nachkommen positiv beeinflussen, das heißt wahrscheinlicher machen. Genetische Eigenschaften bzw. Risiken, die sich erst später im Leben manifestieren (z. B. durch das erhöhte Risiko für eine bestimmte Krankheit), spielen in der Evolution, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle.
•Aus heutiger Sicht nachteilige genetische Eigenschaften können in früheren Zeiten bzw. unter anderen Gegebenheiten durchaus mit Vorteilen wie Infektionsresistenz verbunden gewesen sein. Sie setzten sich über Generationen durch und wurden weitervererbt, wenn sie das Überleben und damit den Reproduktionserfolg in früheren Zeiten, wenn auch nur minimal, wahrscheinlicher machten.
•Durch die vielfältige Wirkung mancher Gene in unserem Körper kann ein und dasselbe Gen sowohl mit Vorteilen in früheren Lebensabschnitten als auch mit einem erhöhten Krankheitsrisiko in der zweiten Lebenshälfte einhergehen (antagonistische Pleiotropie).
•Unsere ererbten Gene geben uns nur in den seltensten Fällen Auskunft über unser Risiko für chronische Krankheiten. Im Durchschnitt erklärt die Genetik nicht mehr als fünf bis zehn Prozent des Risikos für die häufigsten Erkrankungen.
•Die meisten Eigenschaften unseres Körpers sind bei genauerer Betrachtung Kompromisslösungen in Form sogenannter Tradeoffs, die während unserer langen evolutionären Vergangenheit von den ersten Einzellern bis zum modernen Menschen entstanden sind.
•Selbst die Auslösbarkeit, Qualität und Quantität von angeborenen Schutz- und Abwehrmechanismen stellen eine Kompromisslösung zwischen Kosten und Nutzen nach dem Brandmelder-Prinzip dar. Störungen dieser Balance können uns mitunter teuer zu stehen kommen.
•Ein sogenannter evolutionärer Mismatch tritt auf, wenn eine neuartige Umgebung angetroffen wird, die in der Evolutionsgeschichte davor in dieser Form noch nie erlebt wurde. Derartige »Nichtübereinstimmungen« zwischen evolutionärer Ausstattung und neuartiger Umgebung sind in unserer modernen Gesellschaft eine häufige Ursache für die Entstehung von Gesundheitsstörungen und Krankheiten.
Wie Sie sehen, sind in diesem Zusammenhang Attribute wie »gut« oder »schlecht« nur sehr relative, vor allem menschliche Größenordnungen. Denn wie wir ebenfalls gesehen haben, vermehren sich auch durchwegs negativ behaftete genetische Eigenschaften in einer Population, wenn sie nur mit ausreichendem Reproduktionserfolg einhergehen. Das Überleben bis zur Reproduktionsphase und die erfolgreiche Reproduktion selbst sind hier die bestimmenden Größen und nicht zwingend das individuelle Wohlergehen und schon gar nicht der Gesundheitszustand im fortgeschrittenen (postreproduktiven) Alter!
Um an dieser Stelle noch einmal die Brücke zur Ernährung zu schlagen: Nahrung, die primär zwar mehr oder weniger »vertragen« wird, sich aber bei längerem Verzehr im Verlauf des späteren Lebens negativ auf unsere Gesundheit auswirkt (weil wir z. B. nicht optimal an ihren Verzehr »angepasst« sind oder sich andere negative Effekte bei längerem oder erhöhtem Konsum einstellen), kann unter bestimmten Lebens- und Umweltbedingungen aus evolutionärer Sicht dennoch den entscheidenden Vorteil bieten, wenn sie ein Individuum zumindest in ein reproduktives Alter mit entsprechend häufigem Nachwuchs bringt. Ob diese Nahrung sich langfristig negativ auf unsere Gesundheit auswirkt, ist hierbei zunächst völlig sekundär! Die Lebenserfahrung zeigt, dass auch Menschen mit einer miserablen Ernährung und entsprechendem Gesundheitszustand in jüngeren Jahren dennoch beträchtlichen Nachwuchs haben können, solange sie nicht unfruchtbar oder dermaßen schwer krank werden, dass eine Fortpflanzung nicht im Raum steht. Die Rechnung in Form schwerer gesundheitlicher Komplikationen wird ihnen häufig erst Jahrzehnte später, nach erfolgter Reproduktion präsentiert. Ja selbst negative gesundheitliche Folgen in jungen Jahren lassen eine schlechte Ernährung aus evolutionärer Sicht immer noch besser abschneiden als der Hungertod.
Wir Menschen entwickelten uns im Laufe der Evolution zu einem Omnivoren (Allesfresser), der sein Überleben und seine weltweite Verbreitung der Tatsache verdankt, dass er mit einer relativ breiten Palette von Nahrungsmitteln sein Auslangen finden kann. Ich möchte mich