Ähnliche genetische Kompromisslösungen wurden übrigens auch für viele andere Arten beschrieben, einschließlich Bakterien, Hefen, Nematoden, Fliegen, Vögeln und Mäusen. All diese Beispiele zeigen ganz deutlich, dass uns die Mechanismen der Evolution zu alles anderem als einem einzigartigen und perfekten Körper verholfen haben. Durch die deutliche Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung – vor allem während des letzten Jahrhunderts – kommt dieses evolutionäre Erbe für viele Menschen nun in Form eines erhöhten Risikos für Herzkreislauferkrankungen, Alzheimer-Demenz und zahlreiche andere Erkrankungen zu einem zum Teil hohen Preis. Heißt das, dass wir uns daher mit unserem genetisch vorherbestimmten Schicksal abfinden müssen? Keinesfalls!
Im Falle des ApoE4-Allels schätzen Wissenschaftler, dass sein Anteil am Erkrankungsrisiko für die weitverbreitete und im Zunehmen begriffene Alzheimer-Erkrankung »nur« bei zirka 20 Prozent liegt. Umgekehrt sind etwa 60 Prozent der Patienten mit eindeutig klinisch diagnostizierter Alzheimer-Krankheit Träger des ApoE4-Allels. Welche Faktoren machen aber dann den überwiegenden restlichen Teil des Risikos aus? Die Antwort fällt hier genauso trivial aus wie bei allen anderen Erkrankungen mit oder ohne einem gewissen genetischen Risiko: unsere Lebensweise, unsere lebenslange Ernährung und die mittlerweile kaum zu überblickende Anzahl an toxischen Umwelteinflüssen.
Kritiker würden behaupten, dass für diese Aussage der konkrete wissenschaftliche Nachweis fehlt bzw. noch ausständig ist. Wenn wir aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre genauer betrachten, sehen wir, dass es sich bei der Alzheimer-Erkrankung, wie bei den anderen chronischen Erkrankungen industrialisierter Nationen, um eine äußerst komplexe Pathogenese handelt, bei der unter anderem einer chronischen niederschwelligen systemischen Entzündung eine wesentliche Bedeutung zukommt4 (siehe auch Kapitel »Mikrobiom«).
Die Mechanismen sind derart vielfältig und ineinandergreifend, dass wissenschaftliche Studien immer nur eine gewisse Indizienlage herstellen können, keinesfalls aber eine lineare Kausalität. Dieser Umstand scheint bei Skeptikern aus dem nicht-naturwissenschaftlichen Lager auf taube Ohren zu stoßen. Den Herstellern von bedenklichen, weil toxischen, synthetischen Verbindungen gibt dieser Umstand bedauerlicherweise einen Freibrief, alle Einwände zu zerstreuen, weil ein direkter wissenschaftlicher Nachweis für die gesundheitsschädlichen Eigenschaften der jeweiligen Substanz nur in den seltensten Fällen mit letzter Sicherheit zu erbringen ist. So ist etwa eine »sichere« Grenze von Pestizidrückständen in Lebensmitteln (die sogenannten Rückstandshöchstgehalte auf Basis einer EU-Verordnung) genauso kritisch zu sehen wie die Tierexperimente und Expertenmeinungen, auf denen sie beruhen. Diese für eine Zulassung notwendigen Experimente berücksichtigen weder die individuellen genetischen Risikofaktoren in der Bevölkerung noch die potenzierende Schadwirkung durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Substanzen (sogenannter Cocktaileffekt). Auf die Problematik von Grenzwerten hinsichtlich Pestizidrückständen in der Nahrung bin ich in meinem letzten Buch bereits ausführlich eingegangen. Die Komplexität von krankheitsauslösenden Prozessen, die tragende Rolle der niederschwelligen chronischen Entzündung und die in diesem Zusammenhang große präventive Bedeutung unserer Ernährung werde ich noch an zahlreichen anderen Stellen dieses Buches erörtern. Doch noch einmal kurz zurück zur Alzheimer-Erkrankung.
Das Apolipoprotein E beliefert unter normalen Umstanden auch die Nervenzellen des Gehirns mit wichtigen Nährstoffen wie mehrfach ungesättigten Fettsäuren, die wichtige Bestandteile von Zellmembranen sind und zudem antientzündlich wirken. Im Falle von ApoE4 wird dabei allerdings mit fortschreitendem Alter ein Rezeptor zunehmend verklumpt, was offenbar zur Entstehung von Alzheimer beiträgt. Derzeit wird eifrig daran geforscht, die negativen molekularen Wechselwirkungen von ApoeE4 im Gehirn mit einem Medikament blockieren zu können. Einer der Forscher äußerte sich dazu kürzlich in einem Interview dahingehend, dass er, bis es so weit sei, lieber nicht wissen möchte, welche ApoE-Variante er in sich trage.5
Das halte ich aus zweierlei Gründen für durchaus leichtsinnig, denn einerseits ist angesichts der vielfältigen essenziellen Funktionen von ApoE in unserem Körper anzunehmen, dass ein derartiges Medikament, wenn es denn tatsächlich auf den Markt kommt, mit hoher Wahrscheinlichkeit zahlreiche unerwünschte Wirkungen aufweisen wird, andererseits könnten Personen, die ihr genetisches Risiko kennen, frühzeitig durch eine geeignete Ernährung dem Risiko einer tatsächlichen Erkrankung substanziell entgegensteuern. Dennoch muss an dieser Stelle mit Nachdruck festgehalten werden, dass das routinemäßige Testen auf ein genetisches Risiko bei den meisten chronischen Erkrankungen nicht sinnvoll erscheint. Ich werde das gleich noch etwas genauer erläutern.
Eine effektive medikamentöse Behandlung, die in der Lage ist, das Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung zu verhindern, existiert bis heute nicht, da sich die Medikamentenentwicklung immer nur auf einen (bekannten) Aspekt der Erkrankung konzentriert. Hingegen mehren sich die wissenschaftlichen Publikationen zu einer effektiven Vorbeugung und Behandlung insbesondere der Frühstadien der Erkrankung durch eine Ernährung, die reich an pleiotropen (!), also vielfältig wirkenden pflanzlichen Polyphenolen ist.6
Testen auf genetisches Risiko?
Viele Menschen befürchten, krankheitsrelevante Gene von ihren Eltern geerbt zu haben, und hegen die Hoffnung, das Risiko einer möglichen Erkrankung durch einen entsprechenden DNA-Test einschätzen zu können. Immerhin war das eines der Versprechen, das im Zuge des Human Genome Projects die personalisierte Medizin vorantreiben sollte.
In einer rezenten Studie analysierten Forscher Daten aus knapp 600 früheren Studien, in denen Zusammenhänge zwischen häufigen Variationen der DNA-Sequenz (single-nucleotide polymorphisms, SNPs) und mehr als 200 Erkrankungen festgestellt wurden. Das Ergebnis war einigermaßen ernüchternd (»quite shocking«, bezeichnete es einer der Autoren im Interview), denn im Durchschnitt erklärte die Genetik nicht mehr als fünf bis zehn Prozent des Risikos für die häufigsten Erkrankungen, einschließlich bestimmter Krebsarten, Diabetes und Alzheimer.7
Die häufigsten chronischen Krankheiten haben also offensichtlich recht wenig mit Genetik, den Eltern oder den von ihnen geerbten Genen zu tun. Wenn Sie sich Sorgen über Ihr mögliches genetisches Krankheitsrisiko machen, helfen Ihnen Gentests in der Regel nicht weiter, es sei denn, Sie finden in Ihrer Familie eine auffällig starke Häufung einer bestimmten Krankheit (wenn z. B. beide Elternteile, Geschwister, Tanten und Onkel betroffen sind). Die Studie fand allerdings auch ein paar Ausnahmen, bei denen die Genetik eindeutig eine stärkere Rolle spielen dürfte und bis etwa die Hälfte des Krankheitsrisikos ausmacht (z. B. Morbus Crohn, Zöliakie und Makuladegeneration). Trotz dieser wenigen Ausnahmen zeigt sich im Zuge aktueller Studien immer deutlicher, dass die Risiken für die meisten Krankheiten in unserem Stoffwechsel, der Umwelt, unserem Lebensstil, in einem Mangel an Nährstoffen oder der Exposition gegenüber verschiedenen Arten von Chemikalien, Bakterien oder Viren liegen. Vermutlich ist es in den meisten Fällen eine lebenslange Kombination aus zahlreichen dieser Faktoren.
Seit Jahrzehnten untersuchen Wissenschaftler, wie Gene dazu beitragen können, das Krankheitsrisiko vorherzusagen. Auch Hoffnungen auf eine Therapie durch Manipulation dieser Risikogene wurden häufig geäußert. Viele der älteren Studien konzentrierten sich allerdings darauf, wie sich Krankheiten bei identischen und nicht identischen Zwillingen entwickelten. Daraus ergaben sich zum Teil Schätzungen, dass die Genetik bis zu 80 oder 90 Prozent des Risikos für viele häufige Erkrankungen erklären könnte. In letzter Zeit begann die Wissenschaft jedoch, diese Frage anders zu betrachten und untersuchte das gesamte Genom von Tausenden oder gar Millionen von Menschen. GWAS (genom wide association studies) ist die Abkürzung für derartige Untersuchungen, bei denen sogenannte single-nucleotid Polymorphismen (SNPs) identifiziert werden, die mit einem erhöhten Krankheitsrisiko einhergehen könnten. Mithilfe von Computerprogrammen ist es möglich geworden, diese Daten zusammenzuführen