Liebe im neuen Jahrtausend. Can Xue 残雪. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Can Xue 残雪
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800549
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voreinander zu haben, während sie nach außen hin vorsichtig darum bemüht waren, eine harmonische Fassade zu wahren. Ihre beiden Söhne lebten nicht mehr zu Hause, sodass sich die Familie nur an Feiertagen sah, wenn die Söhne mit ihren Frauen und Kindern nach Hause kamen.

      Für Wei Bo stand fest, dass auch seine Frau einer gründlichen Prüfung unterzogen werden musste, oder besser seine Ansichten über sie. Als Mittelschullehrerin war sie gut genug erzogen, um sich stets so diskret auszudrücken, dass man überhaupt nicht verstand, wovon sie redete. Sie waren noch sehr jung gewesen, als sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebt und geheiratet hatten; sieben oder acht Jahre lang hatte diese Leidenschaft angehalten. Doch im Lauf der Zeit war ihre Beziehung merklich abgekühlt und sie wurden einander immer fremder. Wahrscheinlich, weil sie sich so nah waren.

      Wei Bo konnte nicht genau sagen, wann er bemerkt hatte, wie beliebt er bei den Frauen war. In einer beliebigen Gruppe von Frauen, jungen wie alten, gab es immer welche, die sich von ihm angezogen fühlten. Wei Bo war sensibel und umsichtig genug, um sich auf diverse Affären einzulassen, immer darum bemüht, die Fassade zu wahren. Bislang war nie etwas davon nach außen gedrungen.

      Niu Cuilan musste ungefähr seine vierte Romanze dieser Art gewesen sein. Er fand sie aufregend, doch wenn er sich fragte, warum eigentlich, wusste er keine Antwort. Er hatte an jenem Tag im Wellnesshotel ursprünglich nur seine junge Geliebte aufsuchen wollen, doch schließlich neue Beute gemacht. Unversehens hatte es ihn so erwischt, dass ihm ganz schummrig im Kopf wurde. Was folgte, bestätigte ihm nur noch, wie ganz und gar außergewöhnlich seine neue Flamme war. Seine junge Geliebte verbannte er vorerst einen ganzen Monat lang in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses. Wei Bo, Wei Bo, fragte er sich in der Zeit, in der er mit Cuilan zusammen war, ständig, warum schwirrt dir bloß so der Kopf? Als ob dein Leben nicht schon chaotisch genug wäre! Unbewusst überlegte er die ganze Zeit, wie er sich aus der Affäre ziehen könnte, um zu seinem alten Leben zurückzukehren.

      Wei Bo saß zu Hause und erledigte die Buchführung wie üblich für seine beiden Jobs gleichzeitig. Nach einer Weile über den Bilanzen drifteten seine Gedanken ab. Er erinnerte sich an seine Beziehung mit Cuilan und ihr schmachvolles Ende. Schmachvoll war daran allein sein eigenes Verhalten, er konnte es nicht anders als durch und durch erbärmlich nennen. Sicher, die Sache mit ihrem Exfreund hatte ihn verwirrt, aber das war nicht der Grund für Wei Bos Bruch mit ihr gewesen. Er war nicht so leichtgläubig und sah sich außerstande, die Beziehung zwischen diesem Mann und Cuilan richtig einzuschätzen. Hatte er sich also von Cuilan trennen wollen, weil er sich ihr zu vertraut fühlte, ähnlich wie bei seiner Frau? Auch das allein konnte es nicht gewesen sein. Wenn er es sich recht überlegte, hatte vielleicht einfach wieder sein Hang zu einem hedonistischen Lebensstil die Oberhand gewonnen. Wei Bo hatte große Angst davor, verletzt zu werden. Als er sich einmal in den Arm geschnitten hatte, war er vor Angst ohnmächtig geworden. Er war ein Feigling, ein Weichei, der Typ Mann, in den die Frauen vernarrt waren.

      Als Wei Bo seine Bilanzen abschloss, war es bereits dunkel geworden. Er wärmte sich die Reste seines Mittagessens auf, aß und machte gerade den Abwasch, als er eine Gestalt durch das Küchenfenster hereinspähen sah.

      »Wer ist da?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

      »Ich bin’s, You vom Antiquitätenladen. Schnell, öffnen Sie mir, es ist dringend!«

      You kam herein und setzte sich auf einen Stuhl, ohne die Einladung abzuwarten. Er wirkte gehetzt.

      »Ist Ihre Frau nicht zu Hause?«

      »Nein. Was gibt es?« Wei Bo spürte sein Herz bis zum Hals klopfen.

      »Darf ich fragen, Wei Bo, ob Sie immer noch eine Beziehung mit Niu Cuilan unterhalten? Ich weiß, dass Sie die Frage nicht beantworten wollen, aber ich kann Ihnen verraten, dass das gute Fräulein Cuilan sich längst als Prostituierte im Wellnesshotel verdingt hat. Das hat mir eine gute Freundin von ihr, die zufällig meine Geliebte ist, persönlich erzählt. Fräulein Cuilan habe gesagt, dass sie sich dort ein paar neue Sexualpraktiken aneignen will.«

      Angewidert sah Wei Bo, wie der Mann sein bestialisches Gebiss entblößte.

      »Meine Frau wird bald zurück sein«, sagte er.

      You starrte ihn an, ging Richtung Tür und drehte sich von dort noch einmal zu Wei Bo um: »Die Welt ist ein einziges Chaos! Frauen verschwinden wie nichts von der Bildfläche. Geht man nachts aus, ist alles voller schwarzer Krähen!«

      Er trat hinaus in die Dunkelheit. Die Küche war wieder so still, als wäre er nie da gewesen.

      Wei Bo dachte nach. Wer war dieser Kerl namens You, und warum biss er sich so an ihm fest? Zugegeben, er hatte haarsträubende Geschichten anzubieten, vielleicht waren es aber einfach nur Lügen. Eins war klar: You wusste von Wei Bos Affäre mit Cuilan und hatte ein wachsames Auge auf ihn. War vielleicht auch er einer von Cuilans Liebhabern?

      Er hatte diesen Mann erst gestern wiedergesehen. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, noch vor den Toren der Fabrik, hatte er beobachtet, wie eine Frau um die vierzig einen Mann zu Boden schlug, ihn trat und dann davoneilte. Wei Bo war zu ihm hingegangen. Es war Herr You, der seine kaputte Brille von der Straße auflas, sie vorsichtig aufsetzte und zitternd auf die Beine kam. Es sollte ihm kaum möglich gewesen sein, Wei Bo durch das zerbrochene Brillenglas zu erkennen. Nervös blickte er sich nach allen Seiten um, klopfte sich den Staub von Jacke und Hose und verschwand schleunigst im nächsten Friseursalon. Neugierig stahl sich Wei Bo neben die Tür, um zu lauschen. Lautes Lachen drang aus dem Geschäft, in dem Herr You mit der Inhaberin schäkerte.

      Bei der Erinnerung daran legte sich ein schwerer Schatten auf Wei Bos Gemüt. Geschahen gerade im Verborgenen Dinge, von denen er nichts ahnte? Da er aber nichts davon ahnte, wäre es dann, wenn er nichts unternahm, nicht so, als ob nichts geschehen wäre? Sollte er sich überhaupt über etwas, das ihm verborgen war, den Kopf zerbrechen, selbst wenn es ihn direkt betraf? Wei Bo, verloren zwischen den Schatten der Ungewissheit, schwirrte der Kopf. Er musste hinaus und frische Luft schnappen.

      Die zur Seifenfabrik gehörige Wohnsiedlung bestand aus einer Reihe dieser altmodischen, eingeschossigen Häuser, vor denen jeweils hohe Schnurbäume standen, mit steinernen Tischen und Bänken darunter. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, spazierte Wei Bo unter den Schnurbäumen entlang. Die warme Sommerluft machte ihn ein wenig sentimental und ließ ihn gleich wieder an Cuilan denken. Ob sie wirklich ihren Job gekündigt hatte, um im Wellnesshotel als Prostituierte zu arbeiten? Kam diese Entscheidung nicht etwas spät? Er wusste genau, dass keine von Cuilans Entscheidungen mit ihm zu tun hatte; er kannte sie zu gut. An sich fand er auch nichts Schlimmes an einem solchen Entschluss, aber es ging hier schließlich nicht um irgendeine Frau. Es ging um Cuilan. Diese Tatsache (wenn sie denn eine war) verwirrte ihn. Die Cuilan, die er kannte, schien viele Gesichter zu haben. Vielleicht verstand er sie doch nicht so gut wie er dachte, möglicherweise weniger als jener Herr You.

      Einmal, er und Cuilan waren mitten in der Nacht aufgewacht, geschah etwas Seltsames. Er stand auf, um sich in der Küche etwas zu trinken zu holen. Dort goss er sich heißes Wasser aus der Thermoskanne ein, setzte sich und wartete einen Moment, bis das Wasser abgekühlt war, bevor er trank. Da hörte er plötzlich eine Männerstimme aus einer dunklen Ecke des Raumes, die Worte waren undeutlich und klangen nach Dialekt. Wei Bo erhob sich, um den großen Schrank in der Ecke in Augenschein zu nehmen.

      Und tatsächlich stand dort ein Mann mittleren Alters hinter dem Schrank, ein eleganter und kultiviert wirkender Mann. Er bedeutete Wei Bo mit einer Geste, dass er sich nicht erschrecken solle.

      »Ich bin ein Freund von ihr«, sagte er leise. »Ich komme regelmäßig hierher und verstecke mich. Sie werden das vermutlich höchst merkwürdig finden, aber ich habe einfach das Bedürfnis danach. Seien Sie mir bitte nicht böse. Cuilan ist der funkelnde Diamant in einer dreckigen Stadt.«

      Auf Zehenspitzen glitt er theatralisch zur Tür und ging hinaus. Wei Bo stand wie angewurzelt da. Er fragte sich, ob er träumte.

      »Das war der Schlafwandler!«, erklang Cuilans Stimme.

      »Wie kommt der denn hier herein?«, fragte Wei Bo ratlos.

      »Mit dem Schlüssel, wie sonst?«