Scheppernd wurde die Glastür des Lokals aufgestoßen und herein trat ein geschniegelter Beau. Cuilan kannte ihn, er war ein namhafter Gutachter für Antiquitäten und Wertgegenstände, jemand, der sich sonst nicht so ungehobelt benimmt. Der Mann, sein Familienname war You, nahm ungefragt ihr gegenüber Platz. Cuilan starrte an ihm vorbei zum Fenster hinaus, ihr war nicht nach Gesellschaft. Sie war müde und nicht in bester Laune.
»Waren Sie mal wieder im Wellnesshotel? Die haben ein neues Premiumangebot namens ›Fischbad‹. Ein Schwarm winziger Fische nibbelt einem den Dreck von der Haut. Ziemlich originell, finden Sie nicht?«
Beim Sprechen entblößte Herr You zwei Reihen blendend weißer Zähne, die Cuilan an einen Schäferhund erinnerten. Statt einer Antwort schnaubte sie nur durch die Nase. Wollte er sie provozieren?
»Ich saß dort gestern zusammen mit einem Herrn im Becken, den Sie ziemlich gut kennen.«
Die Nudelsuppe mit Pilzen und Gemüse wurde serviert und Cuilan widmete sich ganz ihrem Essen.
»Interessiert Sie denn gar nicht, was ich Ihnen zu erzählen habe?« Herr You ließ seinen Blick keine Sekunde von ihr ab. »Nein. Nicht im Geringsten!«
Cuilan stand auf und ging zum Tresen, um zu zahlen. Sie hörte Herrn You hinter sich theatralisch seufzen. Eisern bezwang sie ihre Neugier und drehte sich nicht nach ihm um. Wie Nadelstiche spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken.
Niu Cuilan war entschlossen, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Und das hieß für sie, zu dem relativ ruhigen Dasein zurückzukehren, das sie geführt hatte, bevor Wei Bo zu ihrem festen Liebhaber geworden war. Affären hatte sie immer wieder gehabt, aber die waren meist so schnell vorbei, wie sie begonnen hatten. Cuilan war stets überzeugt gewesen, nicht der Typ Frau zu sein, der keinen deutlichen Schlussstrich zu ziehen vermochte. Sicher, Wei Bo war auf seine Art ziemlich gut gewesen, aber satt wurde man davon nicht – und das musste man schließlich auch, ganz abgesehen von dem, was das Leben sonst noch zu bieten hatte. Genauer betrachtet war zwischen ihnen auch nichts weiter gewesen, von Verbindlichkeit konnte keine Rede sein. Cuilans Ideal war noch immer die Liebe, die so flüchtig war wie Morgentau.
Zwei Monate waren vergangen seit jenem freien Tag, an dem Wei Bo sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte. Cuilan kam sich sehr ruhig vor. So ruhig, dass es sie beunruhigte.
Ihre Arbeit in der Messinstrumentefabrik war monoton, aber wenig anstrengend, nichts, was Cuilan als der Rede wert erachtete. Auch das Verhältnis zu den Kollegen war weder besonders kühl noch besonders herzlich. Heiße Thermalbäder waren Cuilans bevorzugte Abwechslung, aber das einzige Wellnesshotel ihrer Stadt war gleichzeitig ein Stundenhotel. Ihr Wunsch nach Entspannung siegte am Ende über ihre Abneigung gegen solche Etablissements, und so ging sie eines Sonntags wieder hin. Solange sie nicht ausgerechnet diesem Herrn You begegnete, wäre alles in Ordnung, befand sie.
Samstagnacht hatte Cuilan einen Traum. Sie macht im Thermalbecken Schwimmzüge, als sie plötzlich jemandes Fuß berührt. Erschrocken richtet sie sich auf und blickt sich um, doch sie sieht nur dichte Dampfschwaden. Dann dringt aus dem künstlichen Bambuswald auf der anderen Seite eine Stimme, die ruft: »Niu Cuilan! Niu Cuilan!« Sie eilt zu den Umkleidekabinen, zieht sich an und sieht auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. Warum ist sie hier? Als sie zum Ausgang läuft, findet sie die Tür verschlossen. Ihr Herz klopft wie wild, kalter Schweiß rinnt ihr über die Stirn. Da tauchen die Umrisse eines Mannes auf, und erstaunt stellt Cuilan fest, dass es sich um Wei Bo handelt. Sie zwingt sich zu einem Lächeln, bringt aber nur eine Grimasse zustande. »Hier, um es dir besorgen zu lassen?«, fragt sie ihn. »Bestens! Sag mir, wo ich jemanden finde, der mir die Tür aufschließt.« Wei Bo verspricht, jemanden aufzutreiben, dreht sich um und verschwindet im Hauptgebäude. Cuilan setzt sich auf einen Stuhl neben dem Wandelgang, wo sie wartet und wartet, bis ihr die Augen zuzufallen drohen. Plötzlich packt sie jemand von hinten an der Hüfte und hält sie fest. Sie strampelt verzweifelt und schreit um Hilfe. Dann wachte sie auf.
Beinahe wäre sie wegen des verstörenden Traums nicht ins Wellnesshotel gegangen. Sie ließ sich noch ein wenig Zeit, aber um neun Uhr vormittags machte sie sich schließlich auf den Weg.
Im Frauenbereich des Thermalbeckens war nicht viel los, nur drei andere Besucherinnen ließen sich dort auf dem Rücken liegend treiben wie Tote. Momentan hatte Cuilan tatsächlich den Eindruck, eine davon wäre eine Leiche. Die Frau trieb vollkommen reglos, mit aufgeblähtem Bauch und hervortretenden Augäpfeln auf dem Wasser. Cuilan wollte gerade vor Schreck aufschreien, als die drei Frauen anfingen, laut miteinander zu plaudern; sie schienen eng befreundet zu sein. Erleichtert lehnte sich Cuilan an den Beckenrand und genoss mit halb geschlossenen Augen die Wärme. Das Thermalbecken war makellos sauber, das Wasser sprudelte angenehm aus den Düsen, der Boden bestand aus einer dicken Schicht feinen, weißen Sands und den Beckenrand zierten schöne alte Schnurbäume.
Während sich ihr Körper entspannte, drang das Gespräch der Frauen an ihr Ohr. Anfangs rauschten die Stimmen an ihr vorbei, doch allmählich hörte sie heraus, worum es ging. Sie redeten über eine Prostituierte, die im Begriff war, ihren Beruf aufzugeben und zu heiraten. Alle drei hatten einen echten Knochenjob in einer Baumwollfabrik und beneideten die ehemalige Kollegin, die die anstrengende Stelle vor vier Jahren gekündigt hatte, um als Prostituierte im Wellnesshotel zu arbeiten. Und jetzt verabschiedete sie sich sogar ganz aus dem Arbeitsleben. Angeblich hätten mehrere Männer sie finanziell dabei unterstützt, sich eine Wohnung in einem neuen Apartmentkomplex zu kaufen.
Cuilan war beim Zuhören eingenickt, schreckte aber schnell wieder aus dem Halbschlaf auf, als der Name Wei Bo fiel. Sie öffnete die Augen und sah, wie die drei Frauen aus dem Becken stiegen und zu den Umkleiden gingen. Hatten sie tatsächlich gerade über Wei Bo gesprochen? War er einer der Männer, die der Prostituierten zu einer eigenen Wohnung verholfen hatten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er finanziell dazu in der Lage war, doch sie meinte sich dunkel daran zu erinnern, wie er einmal von »einträglichen Nebeneinkünften« gesprochen hatte. Ihrer Meinung nach hatte er damals nur geblufft, um sie zu beeindrucken. Heutzutage hatte doch jeder irgendein »Nebeneinkommen«, und in ihrer Beziehung zu Wei Bo hatte Geld keine Rolle gespielt. Cuilan war finanziell unabhängig.
Ein Gefühl von Niedergeschlagenheit überwältigte sie. Sie war hergekommen, um sich zu entspannen und nicht, um Geschichten über Wei Bo zu hören. Noch dazu dieser seltsame Traum der vergangenen Nacht. Als ob dieses ganze verdammte Wellnesshotel Wei Bo gehörte. Das Thermalbad füllte sich zunehmend mit Badegästen. Bedrückt stieg Cuilan aus dem Becken.
Als sie sich auf den Ausgang zubewegte, nahm sie die Tür genauer in Augenschein und versuchte sich an Einzelheiten ihres Traums zu erinnern. Das war nicht die Tür, die sie gesehen hatte. Dann hörte sie hinter sich eine Stimme.
»Ich bin ganz sicher, dass seine Gefühle echt sind. Die anderen wollen einfach nicht glauben, dass es so etwas gibt.«
Es war eine der Textilarbeiterinnen, die Frau, die wie eine Tote mit aufgeblähtem Bauch im Becken getrieben war.
Cuilan drehte sich zu ihr um und lächelte sie an wie eine alte Bekannte.
»Ich heiße Long Sixiang. Und Sie sind Niu Cuilan, nicht wahr? Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Na, kommen Sie auch gerne hierher, um es sich ein wenig gut gehen zu lassen, so wie ich und meine Kolleginnen? Ich und die beiden anderen, also wir kommen in letzter Zeit häufiger hierher. Zu gerne würden wir im Bereich mit den besonderen Dienstleistungen arbeiten, aber die halten uns für zu alt. Wir sind übrigens gut bekannt mit Wei Bo, kein Wunder, der ist schließlich bei jedem beliebt. Er hat von Ihnen erzählt.«
»Was hat er über mich erzählt?«
»Dass Sie der Typ braves Mädchen sind. Im Grunde sind wir drei das auch, aber das behagt uns nicht. Wir wollen lieber gefallene Mädchen werden … Aber keiner will uns, weil wir ihnen zu alt sind.«
»Ich wäre auch gern ein gefallenes