Auch eine Rosine hat noch Saft. Luise Lunow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luise Lunow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783967670073
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gefahren war, gab es nicht mehr, das Schloss, den Palast Barberini, das beliebte Café, das schöne alte Theater, in dem ich jedes Jahr das Weihnachtsmärchen gesehen hatte, die Kirchen, alle Häuser am Kanal und am Wilhelmplatz – nur noch rauchende Trümmer. An ausgebrannten Fassaden, die wie schwarze Skelette in den Himmel ragten, standen oft mit Kreide erste Nachrichten: Wir leben Inge, Heinz und Gabi. Oder: Oma Ursel, wo bist Du? Melde Dich, wenn Du lebst – Zeichen für die verzweifelt suchenden Angehörigen.

      Wir liefen vorbei an der zerstörten ehemaligen Tuchfabrik Pitsch in der Wichertsraße in Babelsberg mit den Baracken für die französischen Zwangsarbeiter. Ihnen, wie allen ausländischen Zwangsarbeitern, war es streng verboten, die schützenden Luftschutz­keller aufzusuchen. Jetzt waren die Gebäude zerstört, alles war durch Phosphorbomben verbrannt und überall lagen verkohlte Menschen herum. Sie waren nur noch so groß wie Puppen …

      Mitten im Krieg – etwa 1942 – kam ein Mädchen in unsere Klasse; sie war genauso alt wie wir, wirkte aber viel älter, war voll entwickelt, größer und kräftiger als wir und – hatte eine dunkle Hautfarbe. Sie hatte lange schwarze, glatte Haare und wir nannten sie liebevoll Negerbaby. Sie hieß Helga Schulze und kam mit ihren Eltern aus Brasilien. Ihr Vater hatte dort in der deutschen Botschaft gearbeitet. Sie sprach ein völlig akzentfreies Deutsch und wurde in unserer Klasse trotz ihres exotischen Aussehen sofort voll angenommen – was zu dieser Zeit weitaus ungewöhnlicher war als heute. Sie war sehr beliebt und auch unsere Lehrer begegneten ihr mir großer Freundlichkeit. Etwa zwei Jahre blieb sie bei uns, dann war sie plötzlich weg. Niemand sagte uns, wo sie geblieben war, es hieß, sie sei weggezogen … Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

      Die ständigen Fliegeralarme hatten mich doch mehr belastet, als meine Eltern zunächst annahmen, besonders nachdem eine schwere Luftmine in unserer unmittelbaren Nähe im Barberow-Weg einschlug und auch drei meiner Spielgefährten unter den Trümmern ihrer Häuser erschlagen wurden. Ich schrie regelmäßig nachts auf und erwachte schweißgebadet und zitternd. Als ich kurz darauf an hohem Fieber erkrankte und meine Mutter für nur wenige Minuten die Wohnung verließ, um einzukaufen, fand sie nach ihrer Rückkehr ein Chaos in unserem Wohnzimmer vor. Ich hatte in Angst- und Fieberträumen alle Stühle auf unserem Wohnzimmertisch zerschlagen und schlief erschöpft auf der Erde. Ich konnte mich später erinnern, dass ich schreiend und in Panik auf ein schwarzes Loch, in das ich hineinzustürzen drohte, verzweifelt eingeschlagen habe. Meine Mutter zog unseren Hausarzt zu Rate, der ihr dringend empfahl mich in ein Gebiet zu bringen, das nicht durch Bombenangriffe belastet war. Und so wurde ich meiner Schulklasse hinterhergeschickt, die gerade zwei Wochen zuvor nach Neu-Schleffin an der pommerschen Ostseeküste evakuiert worden war und zu der meine Eltern für mich noch ihr Einverständnis verweigert hatten. Wegen der Bombengefahr fuhren die Züge mit den Kindertransporten fast immer nachts los. Es war für mich eine schreckliche Fahrt, so mitten in der Nacht mit Schülern einer fremden Schule und einem Schild um den Hals von Umsteigestation zu Umsteigestation geschleust zu werden, bis mich eine Helferin dann noch bei Dunkelheit in der kleinen Ferienvilla Haus Erika ablieferte, in der sich meine Klasse schon seit zwei Wochen befand. Man brachte mich in ein Zimmer mit drei anderen Mädchen, die am Morgen voller Staunen eine fest schlafende Mitbewohnerin vorfanden. Ich hatte keine Schwierigkeit, mich in der neuen, friedlichen Umgebung einzugewöhnen, und fand mein seelisches Gleichgewicht in kurzer Zeit wieder. Meine Albträume verschwanden, und endlich konnte ich ein normales Leben ohne nächt­liche Fliegeralarme führen. Wir hatten vormittags im sonnigen Wintergarten Schul­unterricht, nach dem Mittagessen wurden die Hausaufgaben erledigt und dann ging es an den Strand oder wir machten Spiele mit Traudl und Ruth, Studentinnen, die uns betreuten und die wir sehr liebten. Unsere Lehrer kochten für uns und jeder von uns hatte seine Aufgaben, die alle drei Tage wechselten, vom Küchendienst und Servierdienst bis zur Reinigung der Zimmer. Wir lebten wie eine große Familie und endlich wieder wie normale Kinder ohne ständige Bombenangst. Nach dem halben Jahr an der Ostsee sollte es im Winterhalbjahr eigentlich weiter in ein anderes Lager in den Karpaten gehen. Aber glücklicherweise kam diese Reise nicht mehr zu Stande, denn die Front im Osten rückte nun langsam näher und wir wären vielleicht in den letzten Kriegswirren nicht mehr nach Hause zurückgekommen. So wurden wir im Herbst wieder nach Berlin gebracht, mitten hinein in die Bombennächte.

      Auch der Weg zu meiner Tante in Grunewald wurde nun von immer mehr Ruinen gesäumt, viele der wunderschönen alten Villen waren von Bomben zerstört, die Gärten waren ungepflegt und verwildert, so auch die Villa Hettlage gegenüber den Siedlungshäusern, in denen meine Tante wohnte und in deren Garten ich oft mit den Kindern gespielt hatte.

      Die Russen kommen

      Der harte Winter 1942/43 hatte die Wende im Russland-Krieg mit den Kämpfen um Stalingrad und im Februar 1943 mit dem Fall von Stalingrad und dem Tod oder der Gefangenschaft von hunderttausenden deutscher Soldaten gebracht. Ich erinnere mich an den Tag, als die Nachricht von der Niederlage bei Stalingrad kam und unsere Musiklehrerin Frau Lorenz während des Unterrichts weinend vor unserer Klasse stand; sie hatte gerade die Nachricht erhalten, dass ihr einziger Sohn vor Stalingrad gefallen war.

      1945 kam die Front nun unaufhaltsam näher, die Fähnchen auf unserer Landkarte, die den Verlauf der Front anzeigten, rückten täglich ein Stückchen weiter in Richtung Berlin. Ab Januar zogen bei eisiger Kälte wochenlang endlose Trecks mit Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten, aus Ostpreußen oder Westpreußen, aus Pommern und Schlesien durch unsere Stadt, meist zu Fuß mit Kinder- oder Handwagen, voll­gepackt mit dem Wenigen, was sie retten und tragen konnten. Die nicht mehr gehfähigen Großeltern und kleineren Kinder saßen oben auf den völlig überfüllten Wagen, die oft genug die Last nicht mehr aushielten und zusammenbrachen. Meist endete ihr Weg am Abend in einer unserer Schulen oder Turnhallen. Wir Kinder sahen voller Staunen auf die erschöpften, ausgehungerten und völlig übermüdeten Menschen, die dann auf Pritschen oder sogar auf der Erde liegend froh waren, sich wenigstens für ein paar Stunden ausruhen zu dürfen, und für die wir zuvor stundenlang Brote geschmiert hatten, bevor sie am nächsten Morgen weiter ins Ungewisse ziehen mussten. Nur wenige hatten das Glück noch irgendwo in einer Wohnung unterzu­kommen, meist mit der ganzen Familie in einem einzigen Zimmer, aber sie hatten erst einmal ein Dach über dem Kopf und mussten nicht weiter. Alle Einwohner waren bereit zu helfen und rückten enger zusammen, nur der Pfarrer unseres Ortes, der immer so von Nächstenliebe gesprochen hatte, weigerte sich, in seinem Einfamilienhaus Flüchtlinge aufzunehmen. Das konnte niemand verstehen …

      Eines Tages hieß es, die Russen sind kurz vor Berlin, aber drei Ausflugsschiffe stehen in Potsdam bereit, um Frauen und Kinder über die Havel nach Brandenburg und weiter Richtung Westen zu bringen. Meine Mutter wollte in Panik sofort mit uns Kindern weg, aber meine Großeltern haben sie angefleht, kein Risiko einzugehen und zu bleiben. Welches Glück für uns, denn alle drei Schiffe wurden bombardiert und sind mit den vielen Flüchtlingen an Bord untergegangen.

      Ab Januar '45 wurden die Fliegeralarme zum Daueralarm und wir lebten nur noch notdürftig versorgt Tag und Nacht im Keller. Wir hatten alle schreckliche Angst vor den Russen und haben tagelang im Radio die furchterregenden Nachrichten über die näher rückende Front gehört. Das Wummern der Geschütze in unserer unmittelbaren Nähe wurde immer lauter und hörte bald gar nicht mehr auf. Alle noch verfügbaren Männer – oft noch halbe Kinder von 15/16 Jahren und alte Männer – wurden zum letzten Aufgebot, dem Volkssturm, eingezogen. Schon zuvor wurden die Jungen von der Schule weggeholt und mussten als Flakhelfer die Fliegerabwehrkanonen bedienen helfen, die überall auf den Dächern standen und die bevorzugtes Ziel für Tiefflieger und Bomben waren. Zum Entsetzen der zurückbleibenden Frauen und Mütter wurden sie nun – kaum ausgebildet – mit Panzerfäusten ausgerüstet, sollten Panzersperren errichten und wurden in den Kampf geschickt. Wer sich entziehen wollte, wurde unweigerlich erschossen oder noch in letzter Minute aufgehängt mit einem Schild um den Hals »Ich bin ein Feigling«.

      Noch heute erinnert eine Tafel am Berliner Bahnhof Friedrichstraße an zwei junge Soldaten, die unmittelbar vor Kriegsende wegen ihrer »Feigheit« von fanatischen SS- Leuten aufgehängt wurden.

      In Schwerin gehe ich bei jedem Besuch zum großen Bahnhofsvorplatz mit der Laterne, an der am 2. Mai 1945, wenige Tage vor Ende des Krieges, die junge Lehrerin Marianne Grunthal für ihre Worte nach Hitlers