Über uns lebte im 3. Stock die noch junge, aber unglaublich dicke Frau Thomas mit ihren beiden Kindern. Sie konnte nur sehr selten ihre Wohnung verlassen, weil sie die vielen Treppen zwar hinunterkam, aber ihren massigen Körper die steilen Treppen nur schwer wieder hinaufschieben konnte. Dabei hatte sie ein sehr hübsches und freundliches Gesicht und einen schlanken, attraktiven Mann, der sie sehr liebte und ihr jeden Weg abnahm, bis er als Soldat eingezogen wurde und sie sich und ihre Kinder selbst versorgen musste. Am Ende des Krieges war sie durch die kärglichen Rationen auf den Lebensmittelkarten und durch die vielen Bombenalarme, bei denen sie gezwungen war, die vier Stockwerke hinunter in den Keller und wieder hinaufzulaufen, gut auf die Hälfte geschrumpft, was sie plötzlich sehr schön machte. Ihr Mann hat das allerdings nicht mehr erlebt; er kam aus dem Krieg nicht zurück.
Daneben wohnte der Milchhändler Sommer mit seiner Frau. Täglich schleppte er die schweren Milchkannen frühmorgens scheppernd durch den schäbigen Hausflur nach oben in den 3. Stock, bevor er sie dann wieder von Wohnung zu Wohnung hinunterbugsierte und die Milch mit Trichter und Messbecher in die bereitgehaltenen Töpfe goss, oft auch das beliebte Leinöl, das zusammen mit Salz und frischen Brötchen noch heute zu meinem Lieblingsessen gehört. Übrigens brachte er auch gleich morgens vom Bäcker die knusprigen Schrippen mit und füllte sie in die an den Türen hängenden Leinenbeutel. Begleitet wurde er dabei immer von seinem Gehilfen Josef, einem leicht debilen, ungepflegten jungen Mann mit strähnigen Haaren, vor dem wir Kinder uns sehr fürchteten. Wenn wir verbotenerweise auf dem Hof spielten, jagte er uns mit seinen gruseligen Grimassen einen so riesigen Schrecken ein, dass wir schreiend auseinanderliefen und uns vor ihm versteckten.
Obwohl kurze Zeit später der Zweite Weltkrieg begann und die Bombennächte kamen, habe ich in diesem Haus eine sehr glückliche und behütete Kindheit verbracht. Von unserer Wohnung blickten wir auf die kleine Straße mit den vielen Rotdorn-Bäumen. Dort spielten wir Kinder Völkerball und Verstecken, liefen zum Baden über die nahen Nuthewiesen zum schmalen, aber mit seiner starken Strömung nicht ungefährlichen Flüsschen Nuthe und nutzten im Winter die überschwemmten Wiesen zum Schlittschuhlaufen. Natürlich hatten wir nicht die entsprechenden Schuhe – ich hatte nur Halbschuhe mit angeschraubten Schlittschuhen, die ich immer wieder verlor –, aber für uns Kinder war das völlig ohne Bedeutung; wir kannten keinen Luxus und fanden unser Leben wunderbar.
Hatte ich Hunger, rief ich: »Mutti, schmeiß mal 'ne Stulle runter!« und Mutti schmierte eine Stulle, wickelte sie in Zeitungspapier und warf sie vom 2. Stock aus dem Fenster.
Ich war ein fröhliches, leicht erziehbares Kind, aufgeschlossen, lernbegierig und neugierig auf alles, was um mich herum geschah. Meine Mutter musste mich nur selten bestrafen und wenn, dann taten es »ein paar hinter die Löffel«, damit ich wieder spurte. Einmal habe ich allerdings eine Tracht Prügel mit dem Teppichklopfer bekommen: Ich war so sechs oder sieben Jahre alt und hatte mit meinen Freunden den ganzen Tag in einem fremden Keller gespielt. Meine Mutter hatte mich stundenlang verzweifelt gesucht und wollte gerade die Polizei einschalten, als ich quietschvergnügt wieder auftauchte. Die Angst und der Frust ließen sie zum Teppichklopfer greifen. Das war die einzige Prügel, die ich wirklich mal bekommen habe, angedroht wurde sie allerdings öfter. Sie hatte aber auch eine nachhaltige Wirkung, denn ich kam später immer zur verabredeten Zeit nach Hause, selbst wenn ich mit meinen Freundinnen zum Tanzen unterwegs war. Ich wusste, dass meine Mutter so lange wach lag, bis sie meinen Schlüssel in der Wohnungstür hörte.
Als ich fünf Jahre alt war, wurde meine Schwester Marianne geboren. Ich freute mich zwar über das neue Baby, aber da ich nicht wie mit eine Puppe mit ihr spielen durfte, erlahmte mein Interesse bald und ich war lieber wieder mit meinen neuen Freunden zusammen. Das blieb auch später so, als wir älter waren. Fünf Jahre Altersunterschied sind schon zu viel, um etwas gemeinsam zu unternehmen. Als ich das erste Mal verliebt war oder tanzen ging, spielte meine Schwester noch mit Puppen. Als sie tanzen ging und ihren ersten Freund hatte, war ich schon ziemlich erwachsen, wohnte in einem eigenen Zimmer bei meinen Großeltern und ging bald in mein erstes Engagement in einer anderen Stadt. So habe ich wenig von ihrer Entwicklung miterlebt. Auch war sie ungeheuer schüchtern und kontaktscheu und wir hatten von Anfang an sehr unterschiedliche Interessen. Während ich schon als Kind Theaterspielen, tanzen, mich verkleiden wollte, war das nicht so ihre Welt; sie war eher sportlich engagiert, spielte mit ihrem Cousin mit Autos oder mit der Eisenbahn, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich eigentlich viel zu wenig über ihr Leben. Das hat sich auch später kaum verändert. Wir sahen und sehen uns selten und haben nur eine sehr lockere Beziehung, was mich immer wieder traurig macht. Ich hätte mich auch sehr gefreut, wenn sie mal in eine meiner Theatervorstellungen gekommen wäre, aber sie hat trotz unzähliger Einladungen keine einzige meiner Vorstellungen besucht. Warum – das konnte ich bis heute nicht ergründen und nun wird es wohl auch nicht mehr oft die Möglichkeit dazu geben. Wir haben noch nie – außer in oberflächlichen Gesprächen – mal ganz in Ruhe über unser Verhältnis zueinander gesprochen, über eventuelle Verletzungen oder Missverständnisse, die vielleicht schon lange zurückliegen und über die nie geredet wurde. Meine Mutter versuchte immer wieder uns einander näherzubringen, aber leider erfolglos. Seltsamerweise ist unsere Beziehung zueinander nach dem Tod meiner Mutter etwas entspannter geworden. Vielleicht spielt uneingestandene Eifersucht eine Rolle? Ich weiß es nicht und werde es wohl bis zum Ende meines Lebens nicht mehr erfahren. So schrecklich viel Zeit bleibt ja nicht mehr.
Als ich etwa acht Jahre alt war, bin ich mit meiner kleinen Schwester gemeinsam in eine äußerst gefährliche Situation geraten und wäre beinahe ertrunken. Ich war ohne Wissen meiner Mutter mit ihr zum Spielen an die Nuthe gelaufen. Wir warfen eine kleine Puppe immer wieder vom steil abfallenden Ufer ins Wasser und zogen sie anschließend an Land, um sie zu retten. Einmal warf ich sie versehentlich etwas zu weit und beim Angeln nach der Puppe rutschte ich ab und fiel in den Fluss. Er war nicht nur durch seine Strömung gefährlich, sondern auch gleich am Ufer ziemlich tief. Meine 3-jährige Schwester lief weinend am Ufer entlang und drohte ebenfalls in den Fluss zu fallen. Ich konnte zu der Zeit noch nicht schwimmen und wäre sicher ertrunken, hätte uns nicht zufällig eine Frau schon einige Zeit besorgt beobachtet und mich in letzter Sekunde – ich war schon mit dem Kopf unter Wasser – an Land gezogen. Völlig geschockt und ohne mich bei ihr zu bedanken, nahm ich meine Schwester an die Hand und rannte klitschnass nach Hause. Dort kam ich bereits wieder trocken an und erzählte meiner Mutter kein Wort von unserem gefährlichen Erlebnis. Traf ich diese Frau dann später auf der Straße, machte ich einen großen Bogen um sie und würdigte sie keines Blickes. Ich hatte immer Angst, dass sie meiner Mutter davon berichten könnte. Der Vorfall war mir ungeheuer peinlich und ich schämte mich sehr.
Es wird dunkel in unserer Stadt
Der Eckladen in unserem Haus gehörte zu einer Bäckerei. Der Bäcker, Herr Fräßdorf, wurde gleich 1939 zu Anfang des Krieges gegen Polen zur Wehrmacht eingezogen und fiel nach nur wenigen Tagen. Als seine Frau die Todesnachricht erhielt, schwang sie sich sofort aufs Fahrrad, um ihren Schwiegereltern das schreckliche Ereignis mitzuteilen. Es war noch Sommer und sie trug ein weißes Kleid. Eine weinende Frau, ein wehendes weißes Kleid auf dem Fahrrad – so hat sich der Beginn des Krieges bei mir eingeprägt.
Auf einmal wurde unsere Stadt stockdunkel. Um feindlichen Fliegern die Orientierung zu erschweren, musste jeder seine Fenster mit schwarzen Rollos verdunkeln, kein Lichtschimmer durfte abends nach außen dringen, die Straßenlaternen wurden abgeschaltet, Autos mussten mit abgedunkeltem Licht fahren. Ein Blockwart – meist ein älterer Mann mit Parteiabzeichen – kontrollierte streng die Einhaltung dieser Vorschriften! Wer dagegen verstieß, musste mit hohen Strafen, ja sogar mit der Todesstrafe wegen »Feindbegünstigung« rechnen. Kein Wetterbericht verriet mehr die Wetterlage in Deutschland, nichts sollte den feindlichen Bombern ihren Weg weisen. Und große Plakate warnten: »Pst – Feind hört mit – Vorsicht bei jeder Unterhaltung!« Das Leben hatte sich verändert.
Auch mein Vater wurde sofort nach Ausbruch des Krieges zur damaligen Wehrmacht eingezogen und kurz danach an die Front geschickt.
Schon bald bekamen auch wir