Auch eine Rosine hat noch Saft. Luise Lunow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luise Lunow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783967670073
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Ich lebte zu dieser Zeit bereits bei meinen Großeltern und sah meinen Vater nur selten. So blieb er immer ein Fremder für mich und der Kontakt zu ihm war auch später auf wenige Begegnungen beschränkt. Heute weiß ich, wie sehr mir mein Vater in meiner Entwicklung gefehlt hat, wie sehr ich seine Geborgenheit, seine Sicherheit, seine Liebe und seinen Rat gerade als Kind und auch später als Heranwachsende gebraucht hätte. Als er aus der Gefangenschaft nach Hause kam, hatte auch er Hemmungen, auf seine inzwischen fast erwachsenen Töchter zuzugehen, deren Kindheit er durch den Krieg nicht miterleben durfte und die ihm nach seiner Rückkehr als fremde junge Mädchen gegenüberstanden. Besonders als es eine neue Frau in seinem Leben gab, scheute er den Kontakt mit uns; ich hatte den Eindruck, es war ihm peinlich uns seine neue Lebensgefährtin vorzustellen. Er heiratete sie kurz nach der Scheidung von meiner Mutter. Christa war seine große Liebe, eine junge Mitarbeiterin Mitte 20; er war damals Anfang 50. Beide bezogen eine gemeinsame Wohnung, meinem Vater ging es wieder gut, sie waren glücklich und sparten für eine AWG-Neubauwohnung. Seine junge Frau verschwieg ihm aber, dass sie kurz nach der Heirat an Unterleibskrebs erkrankte, verschwieg es ihm aus Liebe bis zuletzt. Erst als sie wenige Tage vor ihrem Tod mit unerträglichen Schmerzen in eine Klinik eingeliefert werden musste, erfuhr mein Vater geschockt, dass seine geliebte Frau sterben würde. Er hat ihren Tod nie überwunden. Kurz darauf war seine AWG-Wohnung bezugsbereit, für die er jahrelang eingezahlt hatte. Sie durfte aber nur mit zwei Personen bezogen werden. Er heiratete also eine flüchtige Bekannte, bezog mit ihr die Wohnung, erkrankte kurz danach ebenfalls an Krebs und starb ungeliebt und vereinsamt in seiner Wohnung. Ich hab ihn während dieser Monate ein paar Mal besucht, aber uns blieb nur noch wenig Zeit Versäumtes nachzuholen – der Krieg mit all seinen Folgen hatte unsere Familie zerstört.

      Meine Mutter

      Meine Mutter hatte in unserer Familie für mich die dominierende Rolle. Sie war meine ganze Kindheit hindurch meine engste Bezugsperson, die mich beschützte, ernährte, die mir die ersten Märchen vorlas und viele selbst erdachte Geschichten erzählte. Die Scheidung von unserem Vater nach vielen Ehejahren, von denen sie allerdings durch Krieg und Gefangenschaft nur wenige miteinander verleben konnten, hat sie nur schwer verkraftet und ihm nie verziehen. Zu hart traf sie die Demütigung, schon bald nach seiner Rückkehr aus Russland wegen einer wesentlich jüngeren Frau verlassen worden zu sein, ohne Anspruch auf irgendeine finanzielle Unterstützung durch ihn – wie es bei Scheidungen in der DDR damals üblich war. Jeder hatte anschließend nur für sich selbst zu sorgen, sogar nach einer lange bestehenden Ehe mit Kindern. Glücklicherweise hatte sie schon früh und in den Kriegsjahren ihr Leben selbst in die Hand genommen. Um für uns Kinder tagsüber da zu sein, trug sie jahrelang frühmorgens Zeitungen aus. Damals musste man die Zeitungen noch bis in die obersten Etagen der mehrstöckigen Häuser bringen, die Briefkästen unten im Hausflur, so wie heute meist üblich, gab es noch nicht. Wie oft habe ich ihr vor der Schule, am Wochenende oder in den Ferien beim Zeitungsaustragen in aller Frühe geholfen. Der schwere Zeitungsberg wurde aufs Fahrrad geladen und dann ging es von Haus zu Haus, treppauf-treppab, immer bis unters Dach der oft vierstöckigen Häuser – das war Schwerarbeit. Viele Jahre später konnte sie dann glücklicherweise einen körperlich leichteren Job bekommen und arbeitete als Kassiererin bei einer großen Firma in Babelsberg.

      Uns Kindern gegenüber war sie immer offen für alles, was wir unternahmen, versuchte unsere Wünsche und Wege zu verstehen und zu unterstützen, auch wenn sie für sie völlig unbekannt waren. Sie war eine wunderbare, äußerst aktive, allem Neuen zugewandte Frau. Aber in dieser für sie sehr kräftezehrenden Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit, wo es darum ging, das Lebensnotwendige zu organisieren, blieb wenig Kraft für ihre eigenen Interessen und so auch kaum Zeit, ein Buch zu lesen. Bei uns zu Hause gab es in meiner Kindheit überhaupt nur drei Bücher, die einsam in unserem Schrank standen. Ich erinnere mich an »Drei Männer im Eis«, »Unser Hausarzt« und den »Knigge« – wer weiß, woher sie den hatten –, den ich schon im Alter von acht oder neun Jahren aufmerksam studierte und dabei die Grundbegriffe des menschlichen Miteinander erlernte. Von da an beobachtete ich interessiert, wer wem in den Mantel half, die Tür öffnete und den Vortritt ließ. Ich konnte es nicht erwarten lesen zu lernen, und kaum konnte ich erste Sätze entziffern, stürzte ich mich auf jedes Buch, wurde schnell regelmäßiger Gast in der Leihbücherei und streifte auf eigene Faust quer durch die Weltliteratur. Bücher begannen mich zu faszinieren, ich ver­schlang sie regelrecht. Ich nutzte jede Minute, um in irgendeiner Ecke zu »schmökern« – wie meine Mutter immer sagte und warnte: »Du verdirbst Dir die Augen!!« Trotzdem hat sie mir später zu jedem Fest Bücher geschenkt und noch heute ist es so, dass ich die Welt vergesse, wenn ich mich in ein fesselndes Buch vertiefen kann, da können sich neben mir Menschen unterhalten, der Fernseher oder das Radio laufen, es stört mich nicht. Damals aber halfen mir Bücher, mich aus der Wirklichkeit des schrecklichen Krieges und der Nachkriegszeit in die wunderbaren und faszinierenden Geschichten fremder Personen, Welten und Orte hineinzuträumen.

      Meine Mutter begann erst spät im Alter, als sie endlich mehr Zeit für sich selbst hatte, begeistert Bücher zu lesen und mit uns darüber zu sprechen. Als ihre Augen schlechter wurden und ihr das Lesen schwer fiel, brachte ich ihr oft Hörbücher und interessierte sie für das Hören von Konzerten und ganzen Opern. Es war eine späte, aber sehr glückliche Erfahrung für sie. Übrigens fuhr sie bis ins hohe Alter von über 95 Jahren täglich mit zwei Bussen zu uns in die Wohnung, machte sich nützlich soweit es ging und war glücklich, während unserer Reisen unsere Wohnung und die Katze hüten zu dürfen. Nur selten ließ sie sich mit dem Auto abholen oder nach Hause fahren. Sie genoss es, dass sie sich mit den Leuten unterwegs im Bus unterhalten konnte und dass sie erstaunt gefragt wurde: »Was, Sie sind schon über 90 und noch so fit und unternehmungslustig?« Sie war von einer unglaublichen Vitalität, sehr phantasiereich im Erfinden von Geschichten und – schauspielerisch recht begabt, wie wir erst spät feststellten. Dann führte sie uns perfekt gespielt und mit großer Ernsthaftigkeit aufs Glatteis und genoss amüsiert unsere Verblüffung.

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