Es war etwas Besonderes, für ein Lebewesen Verantwortung zu übernehmen. Vernachlässigung konnte den Tod bedeuten.
Als Max nach der Stunde am Platz von Marie-Sophie vorbeiging, saß sie nachdenklich da, hatte ihren Kopf in ihre Hände gestützt, starrte vor sich hin und schaute ihn plötzlich an.
„Ich glaube, ich sollte auch nicht aufhören zu fiepen und meinen Eltern zeigen, dass ich nicht gern allein bin“, sagte sie und wusste nicht, warum sie Max, mit dem sie bisher kaum ein persönliches Wort gewechselt hatte, ansprach.
„Aber, du hast doch immer eine Frau, die sich um dich kümmert, wenn deine Eltern arbeiten.“ Marie-Sophie stutzte. Woher wusste Max das? Sie hatte bisher noch niemandem aus der Klasse davon erzählt. Verwundert antwortete sie: „Ja, versorgt werde ich, aber ich spüre doch, dass ich meinen Eltern eine Last bin und sie mich oft auch gar nicht richtig wahrnehmen. So ein Gänsejunges macht es da doch richtig.“
„Meine Mutter würde nicht einmal mein Fiepen hören, denn sie ist meistens nicht da und sorgt höchstens dafür, dass im Kühlschrank etwas zu essen ist.“
Max zögerte, sah Marie-Sophie prüfend an und sagte: „Ich möchte dir ein Geheimnis zeigen, würdest du dich am Nachmittag mit mir treffen?“
„Heute kann ich nicht, denn ich habe Geigenunterricht, aber morgen werde ich den Spanischunterricht schwänzen.“
„Dann hole ich dich mit dem Fahrrad um drei Uhr ab. Hast du überhaupt ein Fahrrad?“ – „Na klar.“ Sie trennten sich und schauten sich für den Rest der Unterrichtsstunden nicht mehr an.
Nach der Schule fiel Max ein, dass sein Fahrrad bei Paul stand. Es hatte aufgehört zu regnen, und er machte sich auf den Weg. Da er sein Fahrrad nicht erblickte, klingelte er und wurde sogleich freundlich ins Haus gebeten.
Pauls Kopf lugte vom Esstisch der Küche durch die Tür. Vor ihm stand ein herrlicher Eierpfannkuchen. „Warten deine Eltern auf dich oder willst du mit uns essen?“ – „Auf mich wartet niemand.“ – „Dann lass dich nicht lange drängen, ich habe noch genügend Teig.“
Max nahm Platz und aß mindestens drei Pfannkuchen. So gut hatte es ihm schon lange nicht mehr geschmeckt.
Die kleinen Schwestern Lene und Anne mochten ihn leiden und begannen mit ihm zu toben. Gutmütig ließ sich Max von ihnen zerzausen. Pauls Mutter rettete ihn schließlich davor, zerdrückt zu werden und gab den Kleinen Malstifte und Papier.
Danach legten sich die beiden Jungen im Zimmer von Paul auf den Fußboden, hörten Musik und sprachen über Fußball. Paul musste um vier Uhr zum Training. „Willst du nicht auch spielen?“, fragte er. „Du hast doch so viel Ahnung.“ – „ Aber leider zwei linke Füße.“
Mit Bedauern verabschiedete sich Max und fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause. Seine Hose hatte er gewaschen und geflickt dabei, und die geliehene sollte er zur Entschädigung auch behalten
Auf der Heimfahrt fing es wieder an zu regnen, und zwar so stark, dass er gezwungen wurde nach Hause zu fahren. Es war niemand da.
Max warf sich auf sein Bett. „Hallo Mercuriamam, mir geht es gut, ich bin satt, ich habe ein weiches Kissen und ein Dach über dem Kopf.“
Er griff nach dem Stein, den er unten in der Erdhöhle aufgesammelt hatte und der irgendwie in sein Bett gelangt war. Er legte ihn zwischen seine Handflächen.
Sehr glatt fühlte er sich an und wurde immer wärmer, doch plötzlich zappelte etwas in seiner Hand und drängelte sich heraus.
Ein Kopf mit großen Augen und wenigen Stoppelhaaren, mit schwarzen Stängelarmen und Beinen flutschte hervor, stellte sich vor ihm auf und quäkte: „Nun komm schon. Wie lange willst du noch auf der Erde bleiben? Folge mir mit in die Tiefe zur Großen Erdmutter.“ Erstaunt griff Max zu, um den hässlichen kleinen Spinnenkerl aus der Nähe anzusehen. Schwups hatte dieser seine Gliedmaßen eingezogen, und Max hatte wieder nur einen glatten Stein in der Hand. An Stelle der verschwundenen Gliedmaßen erschien eine Leuchtschrift auf dem Stein.
KOMM!
Sollte er wirklich sofort in die Erde hinabsteigen?
Draußen goss es in Strömen. Es wurde schon dunkel. Nein, heute hatte er kein Bedürfnis nach weiteren Erlebnissen. Er schaltete den Fernseher an. Wann immer sein Blick auf den Stein fiel, leuchtete ihm das „KOMM“ entgegen.
Seine Mutter kam um 19 Uhr nach Hause, um bald darauf eine Freundin aufzusuchen. Im Fernsehen lief inzwischen ein Film über Botswana.
Max hatte sich belegte Brote gemacht und aß sie, während er interessiert das Geschehen im Film verfolgte.
Eine Löwenmutter hatte sich mit ihren drei Jungen in den Busch verkrochen, um sie dort ungestört und gefahrloser aufzuziehen. Ergeben lag sie auf dem Rücken und ließ zu, dass sie als Kletterberg benutzt wurde. Die Kleinen tollten auf ihr herum, rutschten immer wieder runter, fielen hin und wieder übereinander her, bekamen ein Knurren zu hören, wenn sie es zu toll trieben, und legten schließlich ihre Mäuler an die Zitzen der Mutter. Zufrieden traten sie beim Saugen mit ihren Tatzen neben die Zitzen, rollten sich, als sie satt waren, dicht an die Mutter und schliefen ein. Auch die Mutter lag weiter dösend da. Bei einem knackenden Geräusch hob sie prüfend den Kopf. Aufmerksam starrte sie umher, bis ihre Sinne Entwarnung gaben.
„Löwenkind zu sein wäre auch nicht schlecht“, dachte Max, als er schließlich zu Bett ging.
Wie Kinder leben und sterben
Am nächsten Tag hatte es endlich aufgehört zu regnen. Der Himmel war allerdings immer noch grau verhangen. Die Fahrt zur Schule verlief für Max ohne Unfall. Als er an die Ausfahrt von Pauls Eltern kam, fuhr dieser ihn diesmal nicht an, sondern erwartete ihn an der Toreinfahrt. „Ich hatte doch gehofft, dich zu treffen“, meinte er. „Es wäre schön, wenn wir uns mal wieder verabreden könnten.“
Max war sehr erfreut. „Klar doch, dann könnte ich dir meine Hütte am See zeigen.“ Verlegen kratzte er sich am Kopf und verschob dabei seine Kappe, denn ihm war gerade noch eingefallen, dass er sich heute Nachmittag mit Marie-Sophie verabredet hatte. So sagte er dann auch: „Leider geht es heute nicht, aber, wie wäre es mit morgen?“ Paul war einverstanden und gemeinsam fuhren sie zur Schule.
Als sie dort ankamen, stieg gerade Marie-Sophie aus dem Auto, verabschiedete sich von ihren Eltern und wandte sich den Jungen zu. Sie kannte auch Paul schon vom Sehen und fand ihn richtig gut. Etwas schüchtern reichte sie ihm ihre Hand zur Begrüßung und warf dabei ihre langen Haare nach hinten. Danach trennten sie sich bald. Marie-Sophie und Max schlenderten gemeinsam in ihre Klasse. Sie sollten zuerst Deutsch haben.
Plötzlich hatte es Max eilig. „Ich muss schnell noch einige Sätze zur Inhaltsangabe hinzufügen, ich habe völlig vergessen, dass ich die Hausaufgaben noch nicht fertig habe.“
Nun wurde Marie-Sophie eifrig und holte schnell ihren Text hervor. Sie reichte ihn Max, und dieser begann sofort mit dem Abschreiben. Da er schon häufig ohne erledigte Aufgaben aufgefallen war und er jedes Mal eine schlechte Zensur dafür bekommen hatte, konnte er sich keine weitere leisten. Seine Versetzung stand auf dem Spiel. Auch wenn es ihm egal war, wie gut seine Schulleistungen waren, so wusste er doch, dass es gut war, wenigstens den Realschulabschluss zu bekommen.
Er kannte genügend ältere Jungen, die herumlungerten und keine Arbeit oder Lehrstelle bekamen. Sie wussten nichts mit sich anzufangen, trafen sich oft an bestimmten Plätzen, tranken Alkohol und pöbelten andere an. So etwas Sinnloses wollte er nicht tun. Er glaubte zwar daran, ganz auf sich gestellt in der Natur überleben zu können, wusste aber nicht, ob Deutschland der richtige Ort dafür wäre. Vielleicht sollte er einmal nach Kanada oder Australien auswandern.
Kurz nachdem er mit dem Abschreiben fertig geworden war, betrat Lehrer Steinbrech die Klasse. Und natürlich wurde Max als erster aufgefordert, seine Inhaltsangabe vorzulesen. Danach konnte er aufatmen, denn er wurde gelobt. Er drehte sich zu Marie-Sophie um und warf ihr lächelnd einen nicht zu