„Nun wird es gemütlich!“ Leichtfüßig sprang sie ins Bett, schichtete viele Kissen hinter sich auf und begann, sich wohlig einzukuscheln. Lauschend setzte sie sich nach kurzer Zeit wieder auf und wartete darauf, ob sich nicht doch schon der Schlüssel im Türschloss drehte und die Eltern nach Hause kamen. Ohne die Eltern fühlte sie sich sehr allein. „Ach, es wird heute wohl wieder spät!“
Aus den vielen Büchern, die auf ihrem Nachtisch lagen, suchte sie sich eins aus und begann zu lesen. Sie las gern im Bett. Die vielen Kissen machten es schön kuschelig.
Auf ihren Nachttisch hatte sie einen Teller gestellt, auf dem zwei Gewürzgurken, mehrere Scheiben Schinken und einige Stücke Schokolade lagen. Ab und zu steckte sie sich ein Stück Schokolade in den Mund. Wenn der Geschmack im Mund zu süß wurde, schob sie eine Scheibe Schinken hinterher und biss anschließend genussvoll von einer Gewürzgurke ab. Diese Reihenfolge wiederholte sie einige Male, na ja, wenigstens so lange, bis ihr etwas übel war. Aber so weit war es heute noch nicht, denn das Buch erregte ihr Interesse so sehr, dass sie das Essen vergaß.
Das Buch hatte zur Leselektüre der Großmutter in ihrer Jugend gehört. Es handelt von einem dreizehnjährigen Mädchen, das nach dem Zweiten Weltkrieg allein mit seinem kranken Vater lebt und versuchen muss, Geld zu verdienen, als dieser ins Sanatorium kommt. Nach einigen Anfragen wird sie schließlich in einem Hotel angestellt und darf auch noch morgens in die Schule gehen. Diese Doppelbelastung führt natürlich zu Schwierigkeiten.
Gespannt verfolgte Mary-Sophie das Leben des Mädchens und atmete auf, als das Mädchen eine Frau, die keine Kinder hat, findet, die sie liebevoll aufnimmt und umsorgt. Umsorgen heißt, sie ist immer da, wenn sie Kummer hat, sie kocht für sie, und sie unternehmen vieles gemeinsam.
„Schön wäre es, wenn ich auch jemanden hätte, der immer bei mir ist“, dachte Marie-Sophie. „Nach dem Krieg waren die Lebensbedingungen schwierig, aber leicht sind sie heute auch nicht.“
Sie hörte die Uhr im Wohnzimmer elfmal schlagen. Sie sollte nicht länger lesen und das Licht in ihrem Zimmer ausschalten, denn heute würde sie ihre Eltern wohl nicht mehr sehen. Sie kuschelte sich in die warmen Kissen, legte beide Arme um ihren Körper und versuchte einzuschlafen. Das Mädchen im Buch hatte tatkräftig sein Leben in die Hand genommen, das war wirklich bewundernswert.
In diesem Augenblick hörte sie die Umdrehung des Schlüssels in der Haustür. Mit wehendem Mantel kamen die Eltern bald darauf in ihr Zimmer gestürmt.
„Wie schön, meine Süße, dass du noch wach bist, wir hatten wieder so viele Fälle zu bearbeiten, wir haben es einfach nicht früher geschafft. Aber Frau Sager hat doch sicherlich gut für dich gesorgt?“
„Ja, ja, mir geht es gut. Außer euch habe ich nichts vermisst.“
„Am Wochenende werden wir uns ganz viel Zeit für dich nehmen, mein Püppchen“, sagte der Vater und gab ihr einen Kuss. „Und nun sieh zu, dass du schnell einschläfst.“ Auch die Mutter drückte ihr noch einen Kuss auf und dann zogen sich beide in ihr Schlafzimmer zurück.
Nun konnte Marie-Sophie beruhigt einschlafen. Sie war nicht mehr allein und brauchte sich nicht mehr zu fürchten. Ziemlich schnell schlief sie ein. Sie fühlte noch, wie sie schwerer und schwerer wurde.
Irgendwann wusste sie nicht mehr, ob sie schlief oder ob das, was sie sah, wirklich war, denn der Junge, der da andauernd vor ihr auftauchte, war ein Mitschüler. Er befand sich aber nicht in der Schule, sondern stieg eine endlos lange Treppe hinunter. Diese Treppe war nur sehr schwach erleuchtet. Nachdem er die Treppe hinabgestiegen war, kam er in einen Raum, der ein so sanftes Licht ausstrahlte, dass sie sich sofort dorthin gezogen fühlte. „Warte auf mich“, rief sie laut. Der Mitschüler drehte sich um und winkte. „Na, komm schon, worauf wartest du?“ – „Ja, ich komme“, rief sie und begann zu laufen, laufen, laufen.
Beim Aufwachen am Morgen bemerkte sie zuerst das Zucken ihrer Beine, dann fiel ihr langsam ein, was sie geträumt hatte. Sie fühlte sich wirklich so, als wäre sie die ganze Nacht unterwegs gewesen.
Wenn sie sich jetzt nicht mit dem Aufstehen beeilte, würde sie mit ihren Eltern nicht mehr lange zusammen sein können. Also sprang sie aus dem Bett und sauste ins Esszimmer. Die Eltern saßen schon am Frühstückstisch, begrüßten sie liebevoll, sprachen aber sehr bald schon wieder über ihre Arbeit. So saß Marie-Sophie selbst schweigsam und beobachtend da.
Wie gern hätte sie Geschwister gehabt!
Neue Freunde für Max
Als Max sich auf sein Fahrrad schwang, goss es in Strömen. Verdrossen trat er in die Pedale. Nur seine Augen und seine Nase lugten aus seinem Regencape heraus.
Aus einer Einfahrt schoss ihm von rechts ein anderer Radfahrer ins Vorderrad hinein. Völlig unvorbereitet kippte er mit seinem Rad um und schlitterte durch mehrere Pfützen. Nässe drang in seine Jeans ein. Der andere Radfahrer war ebenfalls gestürzt.
„Du Blödmann, kannst du nicht aufpassen“, knurrte Max. „Tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen“, entgegnete der andere Junge.
„Paul, Paul, ist dir etwas geschehen?“ Paul rappelte sich auf und schaute zu seiner Mutter hoch, die sich mit einem Regenschirm über ihn beugte.
Plötzlich begann die Mutter zu lachen. „Ihr seht wirklich erbärmlich aus! Wenn ihr euch beide bewegen könnt, kommt bloß schnell ins Haus.“
Max spürte sein linkes Knie beim Aufstehen. Seine Hose war am Knie zerrissen und darunter war eine Schürfwunde. Sollte er weiter zur Schule fahren oder mit ins Haus gehen? „Kommt bitte“, erklang die Stimme der Mutter, „so kann ich euch nicht fahren lassen!“
Freundliche blaue Augen schauten ihn besorgt an, als er durch die Tür gehumpelt kam. Im Nu türmten sich die Regencapes zu Bergen im Hausflur auf, und die nassen Hosen der Jungen lagen als Häufchen auf dem Fußboden. Dann wurde Max’ Wunde erst einmal mit Pflaster versorgt, und er bekam eine Ersatzhose von Paul. Sie passte.
Nun schaute er sich ihn genauer an und stutzte, weil Mutter und Sohn sich so ähnlich sahen. Das heißt, Pauls halblange Haare klebten nass an seinem Kopf, und die Mutter hatte einen kessen blonden Kurzhaarschnitt. Blond mussten wohl auch Pauls Haare sein. Durch die Nässe wirkten sie bräunlich. Mutter und Sohn waren ihm sehr sympathisch. Jetzt wusste er auch, dass er Paul schon in der Schule gesehen hatte. Er war ein Schuljahr weiter als er.
So schnell ließ Pauls Mutter die beiden nun nicht gehen. Sie bekamen zunächst jeder eine heiße Tasse Kakao zusammen mit herrlichen Keksen. Nach einer Weile wurden sie schließlich mit dem Auto zur Schule gefahren. Die Mutter lieferte beide Jungen in ihren Klassen ab, indem sie der jeweiligen Lehrerin einige Erläuterungen zum Unfall gab.
Als Max sich auf seinen Platz setzte und aufschaute, blickte er in die nachdenklichen braunen Augen von Marie-Sophie. Er stutzte und erinnerte sich sogleich an die Bilder, die er bei Mercuriamam gesehen hatte. Superschick war sie wieder angezogen, neugierig sah er sie an und wunderte sich darüber, dass sie ihn ebenfalls neugierig musterte. Sie hatte ihn sonst doch nie beachtet. Sah er irgendwie komisch aus? Verunsichert drehte er sich ab.
Dann wurde seine Aufmerksamkeit vom Unterrichtsfilm angezogen. Es ging um Verhaltensweisen von Tieren und die seltsame Tatsache, dass geschlüpfte Gänseküken das Wesen, das sie nach dem Schlüpfen zuerst sehen, als ihre Mutter ansehen und ihm bedingungslos folgen.
Begeistert betrachtete er die Bilder, die zeigten, wie ein Gänseküken von einem Jungen aufgezogen wurde. Das Gänsekind sah entzückend aus mit seinen flauschigen, kurzen Daunen.
Wieso hielt es ein so völlig anders aussehendes Wesen für seine Mutter?
Der Junge berichtete über seine Aufzuchtserlebnisse und beschrieb, wie spannend es war, die Hauptperson für ein so kleines Wesen zu werden.
Tag und Nacht forderte es mit seinem Fiepen seine Aufmerksamkeit