b) Steuerhinterziehung durch pflichtwidriges In-Unkenntnis-lassen der Finanzbehörde, § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO
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Steuerhinterziehung kann auch durch Unterlassen begangen werden. Dies ist ein übliches Charakteristikum strafrechtlicher Tatbestände, die durch die Anwendung des § 13 StGB zu unechten Unterlassungsdelikten werden. Deshalb kann § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO durch Unterlassen begangen werden, wenn die erforderliche Garantenstellung vorliegt.
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§ 370 AO enthält aber mit Abs. 1 Nr. 2 einen eigenständigen Tatbestand, der das Unterlassen einer Steuererklärung unter Strafe stellt. Es handelt sich dabei – anders als bei Nr. 1 – um ein Sonderdelikt, weil nur derjenige, der im konkreten Fall verpflichtet ist, der Finanzbehörde die steuerlich erheblichen Tatsachen zur Kenntnis zu bringen, tauglicher Täter ist.[14] Das Nebeneinander der beiden Alternativen hat zu dem – eher akademischen – Streit geführt, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.[15] Der Disput soll an dieser Stelle nicht aufgegriffen werden, sondern es sei lediglich der Hinweis gegeben, dass nach h.M. § 370 Abs. 1 Nr. 2 in der im Wirtschaftsstrafrecht so wichtigen Konstellation Anwendung findet, in der die Unternehmensleitung erst nach der bereits vollendeten Steuerhinterziehung von ihr erfährt und nach § 153 AO verpflichtet ist, die Angaben zu berichtigen.[16] Das Unterlassen der steuerlichen Berichtigungspflicht ist eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO.[17]
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Pflichtwidrig handelt, wer eine Rechtspflicht zur Offenbarung steuerlich erheblicher Tatsachen verletzt. Solche Pflichten ergeben sich i.d.R. aus den allgemeinen Vorschriften der AO und/oder den Einzelsteuergesetzen. Körperschaften haben nach § 137 AO den Finanzbehörden und den für die Erhebung der Realsteuern zuständigen Gemeinden ihre Gründung und den Erwerb der Rechtsfähigkeit mitzuteilen. Nach § 149 AO i.V.m. § 31 KStG i.V.m. § 25 Abs. 3 S. 1 EStG sind sie verpflichtet, eine Steuererklärung über ihren Gewinn einzureichen.
a) Verhältnis von Steuerverkürzung und ungerechtfertigter Steuervorteil
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§ 370 AO erfordert den Eintritt eines der beiden in § 370 Abs. 1 AO genannten Taterfolge namentlich entweder eine Steuerverkürzung oder die Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils. Die Abgrenzung der beiden unterschiedlichen Taterfolge ist unklar und umstritten.[18] Die steuerrechtliche Terminologie hilft hier nicht weiter. Den Begriff des Steuervorteils verwendet die AO nur im Zusammenhang mit Rechtsfolgen, die sich aus dem Vorliegen einer Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerhinterziehung ergeben (§§ 70, 71, 150 Abs. 6 Nr. 5, 235 Abs. 2 AO), bzw. in Regelungen, die selbst steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechtlicher Natur sind (§§ 371 Abs. 3, 379, 398 AO). Anhaltspunkte für die Abgrenzung lassen sich nur der gesetzlichen Legaldefinition der Steuerverkürzung in § 370 Abs. 4 AO entnehmen. Danach sind Steuern namentlich dann verkürzt, wenn sie nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden. Die zutreffende Ansicht entnimmt dieser Formulierung, dass eine Steuerverkürzung und ein ungerechtfertigter Steuervorteil nach dem Verfahrensstand voneinander abzugrenzen sind, in denen die Besserstellung des Steuerpflichtigen eintritt. Eine Steuerverkürzung liegt danach immer nur im Festsetzungsverfahren vor, während alle gewährten Vorteile außerhalb davon als ungerechtfertigte Steuervorteile zu qualifizieren sind.[19]
b) Steuerverkürzung
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Gegenstand der Verkürzung sind nach dem Wortlaut des § 370 Abs. 1 AO nur Steuern, die in § 3 Abs. 1 S. 1 AO legal definiert sind. Danach sind Steuern Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz eine Leistungspflicht knüpft. Dazu zählt z.B. auch der Solidaritätszuschlag. Abs. 3 nennt auch Einfuhr- und Ausfuhrabgaben i.S.d. Zollkodex der Union.
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Nach der Legaldefinition des § 370 Abs. 4 S. 1 ist eine Steuerverkürzung zum einen gegeben, wenn der Vergleich der tatsächlich festgesetzten Steuer („Ist-Steuer“) mit der gesetzlich geschuldeten Steuer („Soll-Steuer“) ein Minus der Ist- gegenüber der Soll-Steuer ergibt,[20] und zum anderen, wenn die Festsetzung nicht rechtzeitig erfolgt, obwohl ein Steueranspruch besteht. Der Gesetzgeber hat damit eindeutig festgeschrieben, dass entscheidendes Merkmal nicht die Zahlung der Steuer ist, sondern nur die Festsetzung. Für die Vollendung der Steuerhinterziehung ist deshalb unerheblich, ob es zu einem endgültigen Steuerausfall kommt. Auf eine spätere Zahlung oder Nichtzahlung kommt es nicht an, sondern es ist nur maßgeblich, dass der Steueranspruch zu niedrig, verspätet oder gar nicht festgesetzt worden ist.[21]
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Dies führt nach Ansicht eines Teils der Literatur dazu, § 370 AO als ein abstraktes Gefährdungsdelikt zu qualifizieren.[22] Die Formulierung des § 370 Abs. 4 S. 1 AO belegt dies aber nicht. Die Definition der Steuerverkürzung enthält nur den im Strafrecht anerkannten Grundsatz, dass auch ein Gefährdungsschaden einen Vermögensschaden darstellt. So wie das täuschungsbedingte Eingehen eines schuldrechtlichen Vertrags mit unausgewogenen Leistungspflichten im Rahmen des § 263 StGB schon einen Vermögensschaden in der Form des schadensgleichen Gefährdungsschadens darstellt, weil es die Leistungspflichten der Parteien konkretisiert, so konkretisiert der Festsetzungsbescheid den Steueranspruch. Nach den beim Betrug entwickelten Grundsätzen zur schadensgleichen Vermögensgefährdung ist deshalb der tatbestandsmäßige Erfolg schon mit der Festsetzung der Steuer eingetreten. Wie der Betrugstatbestand ist deshalb auch § 370 AO ein Erfolgsdelikt in der Form eines konkreten Gefährdungsdelikts.[23]
c) Erlangung nicht gerechtfertigter Steuervorteile
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Nach der hier vorgenommenen Abgrenzung zwischen Steuervorteilen und der Steuerverkürzung kommen als ungerechtfertigte Steuervorteile nur solche steuerlichen Besserstellungen des Steuerpflichtigen in Betracht, welche die Finanzbehörde außerhalb des Festsetzungsverfahrens gewährt.
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Ein Steuervorteil ist aber nicht jede wirtschaftliche Besserstellung, sondern der Vorteil muss spezifisch steuerlicher Art sein, also sich aus den Steuergesetzen ergeben. Im Übrigen kommen als Steuervorteile nur solche Besserstellungen in Betracht, die bereits im Zeitpunkt ihrer Gewährung zu einer Beeinträchtigung des Steueraufkommens führen.[24] Steuervorteile sind z.B. die Steuerstundung, § 222 AO, der Zahlungsaufschub, § 223 AO, die Niederschlagung, § 261 AO, und der Vollstreckungsaufschub, § 258 AO.
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Nicht gerechtfertigt ist ein Steuervorteil, wenn der Steuerpflichtige keinen Rechtsanspruch auf ihn hat oder wenn die Bewilligung ermessensfehlerhaft war, weil die Finanzbehörde von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist.
d) Kompensationsverbot
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Nach § 370 Abs. 4 S. 3 AO liegt eine Steuerhinterziehung auch vor, wenn die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können. Damit ist das sog. Kompensationsverbot umschrieben, das den Grundsatz enthält, dass die zur Feststellung der Steuerverkürzung vorzunehmende Gesamtsaldierung auf der Grundlage der Erklärungen des Steuerpflichtigen vorzunehmen ist und nachträglich