Freilich kann man mit entsprechender Argumentation auch annehmen, dass der Rechtsbindungswille vorliegt. Hierfür wird teilweise angeführt, dass bei einer entsprechenden ausdrücklichen Erklärung des C, bei Verlust oder Nichtabgabe des Lottoscheins keinesfalls haften zu wollen, A und B ihm den Lottoschein nicht anvertraut hätten. Zudem nimmt ein Lottospieler gerade um der Chance auf den Gewinn willen am Spiel teil.[39] Bejaht man den Rechtsbindungswillen, stellt sich anschließend wiederum die Frage nach dem Haftungsmaßstab. Wie in Fall 5 erläutert, lehnen Rechtsprechung und hM eine Analogie der gesetzlichen Haftungserleichterungen im Falle eines unentgeltlichen Auftrags ab. In Betracht kommt jedoch ein konkludent vereinbarter Haftungsausschluss, der insbesondere auf Grund der geschilderten erhöhten Gefahren des abredewidrigen Verhaltens sowie der drohenden Schadenshöhe naheliegend ist.[40]
d) Schuldverhältnisse ohne Leistungspflicht iSd § 241 Abs. 1
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Denkbar ist auch, dass bei Gefälligkeiten ein Schuldverhältnis entsteht, bei dem nur Nebenpflichten iSd § 241 Abs. 2 bestehen, nicht aber auch Leistungspflichten iSd § 241 Abs. 1. Solche Schuldverhältnisse werden auch als „Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflicht“[41] bzw als „rechtsgeschäftliches Gefälligkeitsverhältnis“[42] bezeichnet. Teilweise werden diese Schuldverhältnisse als eigenständige Kategorie angesehen.[43] Eine einheitliche Rechtsprechung hat sich insoweit noch nicht entwickelt;[44] im Wesentlichen handelt es sich dabei freilich um eine rein terminologische Frage. In der Praxis des Rechts lassen sich ebenso wie in Klausuren über die Auslegung (§§ 133, 157 analog) und die Anwendung des § 311 Abs. 2 Nr 3 interessengerechte Lösungen erzielen.
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Ein solches Schuldverhältnis mit bloßen Nebenpflichten iSd § 241 Abs. 2 kann sich in Ausnahmefällen aus der Auslegung (§§ 133, 157 analog) ergeben.[45] Entscheidend ist, ob ein Rechtsbindungswille der Parteien ermittelt werden kann, der auf die Etablierung von Nebenpflichten (§ 241 Abs. 2) gerichtet ist – ohne zugleich auf Leistungspflichten iSd § 241 Abs. 1 gerichtet zu sein.[46] Dafür gelten die oben genannten Kriterien.
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Möglich ist auch, dass aus einem geschäftlichen Kontakt iSd § 311 Abs. 2 Nr 3 ein Schuldverhältnis mit Nebenpflichten iSd § 241 Abs. 2 ohne Leistungspflicht iSd § 241 Abs. 1 entsteht. Allerdings muss der geschäftliche Kontakt in gewisser Nähe zur Vertragsanbahnung (§ 311 Abs. 2 Nr 2) oder zur Aufnahme von Vertragsverhandlungen (§ 311 Abs. 2 Nr 1) stehen, wie sich aus Wortlaut („ähnlich“) und Systematik ergibt. Insoweit scheiden beispielsweise Gefälligkeiten unter Nachbarn, Freunden oder Familienmitgliedern aus.[47] Allerdings lässt sich über § 311 Abs. 2 Nr 3 etwa die vertragliche Haftung einer Bank begründen, deren Mitarbeiter außerhalb eines Auskunftsvertrags falsche Informationen liefert.[48]
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Bei Schuldverhältnissen ohne Leistungspflicht iSd § 241 Abs. 1 steht immer auch eine deliktische Haftung (nach §§ 823 ff) im Raum. Die Begründung eines Schuldverhältnisses ohne Leistungspflicht iSd § 241 Abs. 1 hat aber drei entscheidende Vorzüge für den Geschädigten: Erstens ist § 278 anwendbar, die Nachteile des § 831 werden ausgeschaltet. Zweitens kann der Geschädigte für reine Vermögensschäden deutlich leichter Ersatz erlangen als über das Deliktsrecht.[49] Drittens hat der Geschädigte Vorteile bei der Beweislast: Gem. § 280 Abs. 1 S. 2 wird vermutet, dass der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat.
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Ein Beispiel bietet die Entscheidung des BGH in NJW 1956, 1313: Ein Spediteur hatte eine Fuhrunternehmerin mit der Versendung von Gütern beauftragt. Der Ehemann der Fuhrunternehmerin verunglückte beim Zusammenkuppeln von Motorwagen und Anhänger tödlich. Daraufhin besorgten Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft für das Straßenverkehrsgewerbe in Vertretung der Fuhrunternehmerin einen Ersatzfahrer. Den Ersatzfahrer stellte eine Schwesterfirma des Spediteurs, der den ursprünglichen Versendungsauftrag erteilt hatte. Der LKW der Fuhrunternehmerin erlitt einen Motorschaden. Die Fuhrunternehmerin nahm die Schwesterfirma auf Schadensersatz in Anspruch, da sie der Ansicht war, dass der Ersatzfahrer den Motorschaden schuldhaft verursacht habe. Der BGH nahm an, dass sich die Schwesterfirma zwar nicht zur Stellung des Ersatzfahrers verpflichtet hatte, sondern den Ersatzfahrer gefälligkeitshalber stellte. Der BGH verneinte also eine Verpflichtung zur Leistung (heute: iSd § 241 Abs. 1). Er sah die Schwesterfirma aber dazu verpflichtet, einen zuverlässigen Fahrer abzuordnen, wenn sie einen Fahrer – aus Gefälligkeit – stellt: Die Gefälligkeit betreffe die wirtschaftliche und geschäftliche Betätigung beider Teile. Der Gewinn aus dem Frachtgeschäft stand auf dem Spiel, wobei die Durchführung des Geschäfts mit einem unzuverlässigen Fahrer mit hohen Risiken verbunden ist. Auch sei der Lastzug ein ganz erhebliches Wertobjekt und eine bedeutende Einnahmequelle für die Fuhrunternehmerin. So bejahte der BGH einen Rechtsbindungswillen der – im Sinne der heutigen Schuldrechtsnormen – auf die Begründung einer Schutzpflicht iSd § 241 Abs. 2 gerichtet war.
5. Zielschuldverhältnis und Dauerschuldverhältnis
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Schuldverhältnisse lassen sich auch in Zielschuldverhältnisse und Dauerschuldverhältnisse unterteilen. Die Begriffe sind im BGB nicht definiert. Allerdings gibt es eine Reihe von Sonderbestimmungen für Dauerschuldverhältnisse, beispielsweise §§ 308 Nr 3, 309 Nr 1 und 9 oder § 314.
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Zielschuldverhältnisse sind auf einen regelmäßig von Anfang an bekannten konkreten Leistungsaustausch ausgerichtet, etwa von Ware und Geld beim Kaufvertrag (§ 433). Wenn die Kaufsache bezahlt und die Sache (mangelfrei) übergeben und übereignet wurde, erlöschen die Primärleistungspflichten (§ 362 Abs. 1). Fortwirkende Schutzpflichten aus § 241 Abs. 2 bestehen zwar, machen aber nicht das Wesen des Zielschuldverhältnisses aus.
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Dauerschuldverhältnisse sind dagegen auf ein Bündel von Rechten und Pflichten ausgerichtet, die über einen längeren Zeitraum fortdauern bzw ständig neu entstehen. Sie erschöpfen sich nicht in einem einzelnen Leistungsaustausch, sondern führen zu langfristigen Bindungen mit immer wieder neu konkretisierten Rechten und Pflichten zwischen den Vertragsparteien. Typische Beispiele sind Mietverträge, Arbeitsverträge oder auch Darlehensverträge. Bei Dauerschuldverhältnissen kennen die Parteien den konkret geschuldeten Leistungsumfang regelmäßig nicht von Anfang an, auch besteht oft ein größeres Näheverhältnis zwischen den Vertragsparteien.[50] Daher können bei Dauerschuldverhältnissen beispielsweise weitergehende und umfangreichere Nebenpflichten iSd § 241 Abs. 2 bestehen als bei Zielschuldverhältnissen.[51]
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Auch Rahmenverträge sind Dauerschuldverhältnisse. Sie bestimmen gewisse Grundlagen und Modalitäten innerhalb derer dann fortlaufend neue Verträge – beispielsweise über die Lieferung von Waren –