II. Allgemeiner und Besonderer Teil des Schuldrechts
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Das Klammerprinzip ist ein rechtstechnisches Markenzeichen des deutschen BGB, das sich am deutlichsten in seinem Allgemeinen Teil (1. Buch des BGB) zeigt, der diejenigen allgemeinen Regeln vor die Klammer zieht, die grundsätzlich für das gesamte BGB gelten sollen. Aber auch das 2. Buch des BGB wendet bei Schuldverhältnissen erneut das Klammerprinzip an: Das Allgemeine Schuldrecht, also die §§ 241 bis 432, zieht Regeln wie bei einer mathematischen Gleichung der Form „xa + xb = x (a + b)“ vor die Klammer. Diese Regeln finden auf alle „in die Klammer“ einbezogenen Schuldverhältnisse Anwendung – unabhängig vom Entstehungsgrund der Schuld. Beispielsweise gilt die Regel des § 266, wonach der Schuldner im Zweifel nicht zu Teilleistungen berechtigt ist, für alle im Besonderen Schuldrecht normierten Schuldverhältnisse (also etwa für Kauf- oder Werkverträge ebenso wie für deliktische Schuldverhältnisse beispielsweise aus § 823 Abs. 1). Allerdings sind viele Normen des Allgemeinen Schuldrechts vor allem auf Verträge zugeschnitten und spielen in der Praxis des Rechts auch meist nur bei ihnen eine Rolle (Beispiele: §§ 243, 267, 364).
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Im Besonderen Teil des Schuldrechts, der mit dem 8. Abschnitt des 2. Buchs beginnt, finden sich sodann besondere Regeln für spezifische Schuldverhältnisse. Das bringt der Titel des 8. Abschnitts „Einzelne Schuldverhältnisse“ anschaulich zum Ausdruck. Zu diesen gehören zunächst vor allem vertragliche Schuldverhältnisse. So ist ab § 433 der Kaufvertrag als Paradigma des gegenseitigen Austauschvertrags geregelt. Die wichtigsten gesetzlichen Schuldverhältnisse sind in Titel 26 (Ungerechtfertigte Bereicherung) und Titel 27 (Unerlaubte Handlungen) geregelt.
Teil I Grundlagen › § 2 Überblick und Systematik des Schuldrechts › III. Schuldverhältnisse: Begriff, Einteilung und Abgrenzung
1. Schuldverhältnis im engeren und im weiteren Sinn
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Wenn § 241 Abs. 1 S. 1 von der Berechtigung des Gläubigers spricht, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern, so nimmt die Norm ebenso wie § 194 Abs. 1 eine spezifische Rechtsposition in den Blick, nämlich den Anspruch des Gläubigers. Mit ihm korreliert die Pflicht des Schuldners, die jeweilige Leistung zu erbringen. Dieser Anspruch und die mit ihm korrelierende Pflicht werden auch als Schuldverhältnis im engeren Sinn bezeichnet.[6]
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Der Begriff des Schuldverhältnisses kann jedoch auch in einem weitergehenden Sinn verwendet werden, der über Anspruch und Pflicht iSd §§ 241 Abs. 1 S. 1 und 194 Abs. 1 hinausgeht: Weder § 241 Abs. 1 S. 1 noch § 194 Abs. 1 bezeichnen weitere Rechte und Pflichten, die sich aus der engen Beziehung von Schuldner und Gläubiger ergeben können. Auf sie weist aber schon § 241 Abs. 2 hin, wonach das Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten kann (Schutzpflichten). Wer einen Maler damit beauftragt, die Wand eines Zimmers zu streichen, hat einen Anspruch gegen den Maler, dass er ebendies tut. Aber er hat gem. § 241 Abs. 2 auch ein ganzes Bündel weiterer Rechte: Darauf, dass der Maler die Einrichtungsgegenstände des Zimmers nicht beschädigt oder dass er keine Wertgegenstände klaut und so fort. Der Maler kann auch zur Aufklärung bzgl etwaiger Gesundheitsgefahren verpflichtet sein, die beispielsweise aus dem Einsatz bestimmter Lacke resultieren können.
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Mit dem Schuldverhältnis im weiteren Sinn ist das gesamte komplexe Bündel rechtlicher Relationen gemeint, das aus der konkreten engeren Beziehung zwischen (paradigmatisch) zwei Personen resultiert.
Dazu gehören die von § 241 Abs. 1 S. 1 in den Blick genommenen Forderungsrechte (und die mit ihnen korrelierenden Pflichten), aber dazu gehören vor allem auch die in § 241 Abs. 2 beschriebenen Schutzpflichten. Letztere können auch schon im Vorfeld eines Schuldverhältnisses bestehen (vgl § 311 Abs. 2) und sie enden nicht, wenn die Leistungspflicht iSd § 241 Abs. 1 S. 1 erloschen ist. Beispielsweise kann der Verkäufer eines Backofens gem. § 241 Abs. 2 verpflichtet sein, für eine gewisse Zeit Ersatzteile vorrätig zu halten. Die konkrete Zeitspanne, für die der Verkäufer verpflichtet ist, hängt vom jeweiligen Produkt und seiner üblichen Lebensdauer ab.[7] Er kann auch zur Warnung oder zum Rückruf verpflichtet sein,[8] etwa, wenn er nach der Erfüllung Kenntnis davon erlangt, dass ein Dauerbetrieb des Backofens für mehrere Stunden mit einer erheblichen Explosionsgefahr einhergeht. Relevant ist das vor allem bei technischen oder auch chemischen Produkten.[9] Typische Anwendungsfälle sind etwa Produktbeobachtungspflichten von KFZ-Herstellern.[10]
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Das BGB verwendet den Begriff „Schuldverhältnis“ je nach Regelungskontext sowohl mit der Bedeutung „Schuldverhältnis im weiteren Sinn“ als auch in der Bedeutung von „Schuldverhältnis im engeren Sinn“. Welche Bedeutung vorliegt, ergibt sich im Wege der Auslegung, wobei der jeweilige Regelungsgegenstand und -kontext meist problemlos weiterhelfen. So meint § 362 Abs. 1 nicht das Schuldverhältnis im weiteren Sinne, sondern bloß das Schuldverhältnis im engeren Sinne, wenn er davon spricht, dass das „Schuldverhältnis erlischt, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird.“ Andernfalls ließe sich nicht begründen, weshalb es nachwirkende Nebenpflichten und Schutzpflichten (wie etwa zum Produktrückruf oder zur Bereithaltung von Ersatzteilen) auch noch nach Erfüllung gibt. Demgegenüber ist beispielsweise in § 311 Abs. 1 vom Schuldverhältnis im weiteren Sinne die Rede, wenn der Vertrag als regelmäßiges Erfordernis für die Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft bezeichnet wird.
a) Überblick
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Schuldverhältnisse können nach ihrem Entstehungsgrund in rechtsgeschäftliche und gesetzliche Schuldverhältnisse eingeteilt werden. Die Regeln des Allgemeinen Schuldrechts gelten grundsätzlich sowohl für rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse als auch für gesetzliche Schuldverhältnisse. Das ergibt sich aus dem Klammerprinzip, das im BGB auch im Schuldrecht eingesetzt ist, um den Rechtsstoff zu ordnen.[11] Allerdings gibt es Teile des Allgemeinen Schuldrechts, die sich nur auf rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse beziehen (etwa §§ 305-310) oder auch nur auf Verträge (§§ 311-361) oder auf gegenseitige Verträge (§§ 320-326).
b) Rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse
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Die im Schuldrecht fokussierte enge Beziehung zwischen zwei Personen kann insbesondere auf Rechtsgeschäften beruhen.
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Rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse entstehen, wenn und weil ein Rechtsgeschäft zwischen mindestens zwei Personen vorliegt. Fast immer ist damit ein Vertrag gemeint. Verträge spielen für unser Leben eine wichtige Rolle: Viele Menschen haben als Mieter einer Wohnung ein rechtsgeschäftliches Schuldverhältnis mit einem Vermieter (§ 535). Oft schließen wir Kaufverträge (§ 433) ab. Wenn jemand eine Malerin engagiert, damit sie sein Haus