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(b) Die Auswirkungen des Zielkonflikts zwischen den Periodisierungsprinzipien sowie dem Objektivierungsgedanken zeigen sich auch bei der langfristigen Fertigung. Die langfristige Fertigung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich bei einem Vertrag, der mit einem Kunden über ein konkretes Projekt abgeschlossen wurde, der Leistungserstellungsprozess über mehrere Perioden erstreckt. Betont man – wie der Bundesfinanzhof bei Dividendenansprüchen aus der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft – den Objektivierungsgedanken sehr stark, ist zur Festlegung des Zeitpunkts der Gewinnrealisierung in erster Linie auf rechtliche Kriterien abzustellen. Nach dieser Betrachtung gelten die Erträge aus dem Absatz der betrieblichen Hauptleistung zu dem Zeitpunkt als realisiert, zu dem die Preisgefahr auf den Abnehmer übergeht. Bei einer langfristigen Fertigung bedeutet dies, dass die Umsatzerlöse erst in dem Jahr zu erfassen sind, in dem das Projekt vollständig abgeschlossen ist, dh zu dem Zeitpunkt, zu dem das erstellte Wirtschaftsgut dem Käufer übergeben und von diesem abgenommen wird. In den Jahren, in denen das Produkt erstellt wird, dürfen noch keine Umsatzerlöse und damit kein Gewinn ausgewiesen werden. Diese Form der Gewinnrealisierung bei langfristiger Fertigung wird als Completed-Contract-Method bezeichnet.
Die Betonung der rechtlichen Kriterien hat zur Konsequenz, dass bei langfristiger Fertigung, wie sie für Bauprojekte und im Anlagenbau typisch ist (Beispiele: Errichtung eines Kraftwerks oder eines Staudamms, Produktion eines Schiffes), die Umsatzerlöse erst nach Abschluss des Leistungserstellungsprozesses verbucht werden können. Die Umsatzentwicklung und damit der Gewinnausweis nehmen einen unregelmäßigen Verlauf.
Beispiel:
Einem Hersteller von Kraftwerken gelingt es, im Jahr 01 den Auftrag für die Erstellung des Kraftwerks A zu erlangen. Die Bauphase erstreckt sich über die Jahre 02–04. Im Jahr 03 wird der Auftrag für das Kraftwerk B erteilt, das nach Abschluss der Bauarbeiten im Jahr 06 an den Besteller übergeben werden.
Der Hersteller weist lediglich im Jahr 04 (Übergabe des Kraftwerks A) und im Jahr 06 (Übergabe des Kraftwerks B) Erträge aus. In den Jahren 01, 02, 03 und 05 werden keine Umsatzerlöse verbucht.
Das Beispiel zeigt allerdings auch, dass regelmäßige Auftragseingänge und Auftragsabrechnungen zu einer Verstetigung des Erfolgsausweises führen. Würde der Hersteller jedes Jahr einen Auftrag für ein Kraftwerk des gleichen Typs erhalten, dessen Erstellung jeweils die gleiche Zeitdauer in Anspruch nimmt, würde nach Fertigstellung des ersten Kraftwerks in jedem Jahr (tendenziell) der gleiche Ertrag ausgewiesen.
Stellt man bei der Interpretation des Realisationsprinzips nicht ausschließlich auf rechtliche Kriterien ab, sondern misst den Periodisierungsgrundsätzen und damit wirtschaftlichen Kriterien ein höheres Gewicht bei, hat eine anteilige Gewinnrealisierung entsprechend dem Verlauf des Fertigstellungsprozesses zu erfolgen. Bei der – im angelsächsischen Bereich üblichen – Percentage-of-Completion-Method wird jedes Jahr der Teil des geschätzten Gesamterfolgs ausgewiesen, der auf die im abgelaufenen Wirtschaftsjahr durchgeführte Fertigstellung entfällt. Die Anwendung der Percentage-of-Completion-Method setzt erstens voraus, dass der Gesamterfolg, also die zu erwartenden Erlöse sowie die bereits angefallenen und insbesondere die zukünftig noch anfallenden Aufwendungen, mit hinreichender Sicherheit ermittelbar sind. Zweitens muss ein Aufteilungsschlüssel bekannt sein, nach dem der aus dem Projekt zu erwartende Gesamterfolg auf die Perioden verteilt werden kann, in dem die Fertigung durchgeführt wird.
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Überträgt man die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zum Zeitpunkt der Vereinnahmung von Erträgen aus der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft auf die Diskussion über den Zeitpunkt der Gewinnrealisierung bei langfristiger Fertigung, scheidet die Percentage-of-Completion-Method für die Steuerbilanz aus, obwohl in der handelsrechtlichen Rechnungslegung im Hinblick auf die Internationalisierung der Rechnungslegung der Anwendungsbereich der fertigungsbegleitenden Gewinnrealisierung immer weiter ausgedehnt wird.[16] Aufgrund der höheren Gewichtung des Objektivierungsgedankens in der Steuerbilanz und des stärkeren Abstellens auf die Informationsfunktion im Rahmen der handelsrechtlichen Rechnungslegung kommt es zu einer unterschiedlichen Interpretation des Realisationsprinzips. Im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung werden aufgrund des Grundsatzes der Rechtssicherheit (Tatbestandsmäßigkeit und Tatbestandsbestimmtheit) rechtliche Kriterien stärker betont, während in der handelsrechtlichen Rechnungslegung aufgrund der Informationsfunktion mehr auf die wirtschaftlichen Verhältnisse abgestellt wird. Der Gewinn wird in der Steuerbilanz erst nach Abschluss des Gesamtprojekts ausgewiesen, während es im Rahmen der handelsrechtlichen Rechnungslegung während des Fertigstellungsprozesses sukzessive zu einem Ausweis von Erträgen kommt. Bei der langfristigen Fertigung wird der Gewinn in der Steuerbilanz später ausgewiesen als in der Handelsbilanz.
Trotz Maßgeblichkeitsprinzip stimmt der Realisationszeitpunkt in der Steuerbilanz nicht in jedem Fall mit dem Zeitpunkt überein, zu dem in der Handelsbilanz Gewinne als realisiert gelten. Die Begründung für dieses Auseinanderfallen liegt aber nicht in dem Ziel, für die steuerliche Gewinnermittlung die Ertragsbesteuerung vorzuverlagern oder die Aufwandsverrechnung in spätere Perioden zu verschieben. Vielmehr wird die Percentage-of-Completion-Method im Steuerrecht mit dem Argument abgelehnt, über die stärkere Betonung des Objektivierungsgedankens die steuerbilanzpolitisch nutzbaren Ermessensspielräume der Steuerpflichtigen einzuschränken.
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Diese Grundsätze können auf Werkverträge übertragen werden, die zwar aus mehreren Teilleistungen bestehen, die aber für den Abnehmer nur in ihrer Zusammenfassung von Nutzen sind. So setzt sich beispielsweise bei einem Gerüstbauvertrag die Leistung aus der Lieferung des Gerüsts, dem Aufbau des Gerüsts, der Überlassung des Gerüsts für einen bestimmten Zeitraum und dem Abbau des Gerüsts zusammen. Die einzelnen Teilleistungen sind für den Abnehmer isoliert nicht von Nutzen. Dies bedeutet, dass das Gerüstbauunternehmen den gesamten Gewinn erst im Zeitpunkt der vollständigen Leistungserbringung, dh mit der Beendigung des Abbaus des Gerüsts, realisiert.[17]
Zu einer gegenläufigen Entwicklung kam es kurzfristig bei Anzahlungen, die im Zusammenhang mit Werkverträgen stehen. Bei Abschlagszahlungen an Architekten und Ingenieure nach § 8 Abs. 2 HOAI 1996 wurde steuerrechtlich eine Gewinnrealisierung bereits zu dem Zeitpunkt angenommen, zu dem der Anspruch auf die Abschlagszahlungen entstanden ist.[18] Diese Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs führt dazu, dass die Gewinnrealisierung zum Teil vor der abschließenden Leistungserbringung vorzunehmen ist. Diese Rechtsprechung zu einem Sonderfall zu einer inzwischen nicht mehr geltenden Honorarordnung hat die Finanzverwaltung nicht nur auf die aktuelle Honorarordnung dieser Berufsgruppe ausgedehnt, sondern allgemein auf Ansprüche auf Abschlagszahlungen nach § 632a BGB.[19] Konsequenz dieser vorübergehend vertretenen Ansicht war, dass das Realisationsprinzip zwar gleichfalls für die handelsrechtliche Rechnungslegung anders ausgelegt wurde als für die steuerliche Gewinnermittlung. Allerdings erfolgte entgegen den vorstehend für die langfristige Fertigung formulierten Überlegungen bei derartigen Abschlagszahlungen der Gewinnausweis in der Steuerbilanz früher als in der Handelsbilanz. Nach heftiger Kritik[20] hat die Finanzverwaltung ihre Auffassung geändert, dh sie wendet die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nunmehr nur auf Abschlagszahlungen an, die bis zum 17.8.2009 nach § 8 Abs. 2 HOAI 1996 vertraglich vereinbart wurden.[21]
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(5) Beurteilung: Das