Zur Heterogenität der Ermächtigungsgrundlagen Gola/Klug, Grundzüge des Datenschutzrechts, 2003, S. 8; zur überkomplexen Ausdifferenzierung kritisch Kingreen/Kühling, JZ 2015, 213.
1. Kapitel Grundlagen › C. Rechtsrahmen im Grundgesetz › III. Grundrechte
III. Grundrechte
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Fallbeispiel 3 Ermittlung von Mobilfunkdaten durch IMSI-Catcher – Fernmeldegeheimnis
Auf der Basis einer entsprechenden strafprozessualen Norm (§ 100i StPO) darf zum Zwecke der Ergreifung eines Beschuldigten in bestimmten qualifizierten Fällen die Geräte- und Kartennummer eines aktiv geschalteten Mobiltelefons mittels eines so genannten IMSI[1]-Catchers ermittelt werden.[2] Hierdurch wird die genaue Standortbestimmung des Mobiltelefons ermöglicht. Die so erhobenen Daten werden anonym und automatisch abgeglichen und bei fehlender Betroffenheit erfolgt eine unverzügliche Löschung nach dem Messeinsatz. Unbeteiligte Dritte werden nicht identifiziert. Gegenüber dem des Mordes dringend verdächtigen T erfolgt eine entsprechende Erhebung. T sieht hierin einen nicht gerechtfertigten Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 Var. 3 GG (Fernmeldegeheimnis). Nachdem er erfolglos alle Instanzen durchlaufen hat, wendet er sich an das BVerfG.
Verletzt die angegriffene Maßnahme Grundrechte des T?
Hintergrund: Zum Empfang eingehender Anrufe oder Kurzmitteilungen ist die Lokalisierung des Standorts eines Mobiltelefons durch den Mobilfunknetzbetreiber nötig. Im Rahmen dieser ständigen Positionsangabe werden u.a. die Kartennummer (IMSI) und die Gerätenummer (IMEI[3]) des Mobiltelefons an die Basisstation gesendet. Dieses Prinzip nutzt der IMSI-Catcher, indem er innerhalb einer Funkzelle eine Basisstation des Mobilfunknetzes simuliert. Sämtliche eingeschalteten Mobiltelefone, die sich im Einzugsbereich des IMSI-Catchers befinden, senden nunmehr ihre Daten an diesen. Auf diese Weise ist es möglich, Karten- und Gerätenummer sowie den Standort des Mobiltelefons zu ermitteln.
(Lösung siehe Rn. 116)
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Fallbeispiel 4 Löschbegehren gegen Online-Archiv – Recht auf Vergessen I
(angelehnt an BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I (s. auch Anmerkungen Kühling, NJW 2020, 275))
Der spätere Beschwerdeführer B wurde 1982 rechtskräftig wegen Mordes verurteilt. Nach Verbüßen seiner Strafe wurde er 2002 aus der Haft entlassen. Das Online-Angebot einer Zeitung, die 1982 über die rechtskräftige Verurteilung des Beschwerdeführers mit drei Artikeln berichtete und ihn namentlich nannte, ist weiterhin in Verbindung mit seinem Namen mithilfe der Nutzung einer Internet-Suchmaschine auffind- und online einsehbar. Der Beschwerdeführer macht daher einen Unterlassungsanspruch gegen die Zeitung dahingehend geltend, dass die drei Artikel mit Namensnennung nicht online ohne Zugangsbarrieren verfügbar sein sollen. In der Konsequenz würden diese auch nicht mehr unter den ersten Treffern bei einer Namenssuche in einer Internet-Suchmaschine erscheinen. Das Landgericht hatte der Klage des B und seinem Löschbegehren gegen das Online-Archiv zunächst stattgegeben und das zuständige Oberlandesgericht die Berufung zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Revision war vor dem Bundesgerichtshof allerdings erfolgreich und führte zur Änderung des Urteils des Landgerichts und zur Klageabweisung.
Nun richtet sich der B mit einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG. Ist seine Beschwerde begründet?
(Lösung siehe Rn. 117)
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Fallbeispiel 5 Löschbegehren gegen Suchmaschinenbetreiber – Recht auf Vergessen II
(angelehnt an BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II (s. auch Anmerkungen Kühling, NJW 2020, 275))
Die Betroffene und spätere Beschwerdeführerin A war Gegenstand eines Berichtes eines bekannten Fernsehmagazins. Sie hatte ihrerzeit auf Anfrage ein Interview für einen Beitrag gegeben. In dem Beitrag wurde ihr Verhalten als Geschäftsführerin im Zusammenhang mit der Kündigung eines Arbeitsnehmers negativ dargestellt. Unter dem Titel „Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ ist der Beitrag auch auf der Internetseite des Magazins abrufbar. Die Beschwerdeführerin verlangte nun von der Internet-Suchmaschine Google die Löschung eines Links auf diesen Beitrag. Zunächst hatte das Landgericht der Klage stattgegeben. In der Berufung hatte das zuständige Oberlandesgericht ihre Klage hingegen abgewiesen. Nun erhebt sie Verfassungsbeschwerde.
Ist die A beschwerdebefugt? Ist die Verfassungsbeschwerde begründet?
(Lösung siehe Rn. 118)
Anmerkungen
International Mobile Subscriber Identity.
Angelehnt an BVerfG, Beschl. v. 22.8.2006, 2 BvR 1345/03 = BVerfGK 9, 62 = K&R 2007, 32.
International Mobile Equipment Identity.
1. Anwendbarkeit deutscher Grundrechte neben den Unionsgrundrechten
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Wesentliche Teile der datenschutzrechtlichen Normen finden sich seit dem Mai 2018 in einer europäischen Verordnung (Datenschutz-Grundverordnung).[1] Diese sind nicht anhand der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfbar, sondern nur am Maßstab des europäischen Primärrechts, denn (jegliches) europäisches Recht geht grundsätzlich auch nationalem Verfassungsrecht vor.[2] Die Grundrechte des Grundgesetzes und die hierzu ergangene verfassungsgerichtliche Rechtsprechung sind gleichwohl weiterhin von Bedeutung: Einerseits belässt die DS-GVO für den nationalen Gesetzgeber umfangreiche Spielräume, die durch das neugefasste Bundesdatenschutzgesetz[3], entsprechende Landesdatenschutzgesetze und eine Vielzahl bereichsspezifischer Regelungen ausgefüllt werden. Da der nationale Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Spielräume einerseits – wie bei jedem nationalen Gesetz – die nationale Verfassung zu beachten hat und andererseits in Durchführung von Unionsrecht handelt, gelten insoweit die Grundrechte des Grundgesetzes und europäische Grundrechte parallel.[4] Auch die Ausführung der datenschutzrechtlichen Normen erfolgt im Wesentlichen durch nationale Behörden, die insoweit ebenfalls einer parallelen Grundrechtsbindung unterliegen. Sollte es zu Interferenzen zwischen den Schutzbereichen der korrespondierenden Normen kommen, insbesondere in multipolaren Grundrechtssituationen, so bleibt es beim Anwendungsvorrang des Unionsrechts, so dass insoweit letztlich die Maßstäbe der Unionsgrundrechte ausschlaggebend sind.[5] Von Bedeutung bleiben wird die nationale Grundrechtsdogmatik aber allemal, zumal ein Großteil der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung im Datenschutzrecht zu Normen im bipolaren Bürger-Staat-Verhältnis ergangen ist und in Bereichen, in denen erhebliche mitgliedstaatliche Ausgestaltungsspielräume verbleiben. Zudem hat die jüngere Rechtsprechung des EuGH am Maßstab des „Rechts auf Vergessenwerden“ klar gemacht, dass auch im Rahmen der Anwendung der DS-GVO feine Spielräumen für die Mitgliedstaaten verbleiben, bei deren Ausfüllung mitgliedstaatliche