§ 2 Grundsätze des Vollstreckungsverfahrens › III. Verhältnis zum Verfassungsrecht
III. Verhältnis zum Verfassungsrecht
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Da dem Vollstreckungsgläubiger im Wege der Zwangsvollstreckung Rechtsschutz gewährt wird, indem durch staatliche Organe in grundrechtlich geschützte Rechte des Vollstreckungsschuldners eingegriffen wird, kommt es im Bereich des Zwangsvollstreckungsrechts häufig zu Berührungen mit dem Verfassungsrecht. Es ist aber zu beachten, dass im Zwangsvollstreckungsrecht – anders als etwa im Bereich der öffentlich-rechtlichen Eingriffsverwaltung – nicht allein das Verhältnis zwischen Staat und Bürger betroffen ist, sondern Schuldner, Gläubiger und Staat beteiligt sind. Da der Staat handelt, um die privaten Ansprüche des Gläubigers durchzusetzen, sind die Rechte des Schuldners deutlich weniger rücksichtsbedürftig. Der Gläubiger selbst ist allenfalls mittelbar und in eingeschränktem Maß an die Grundrechte gebunden (Stichwort: Drittwirkung von Grundrechten) und hat ansonsten nur eine allgemeine Rücksichtnahmepflicht.
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Beispiel 2a (Verfassungsmäßigkeit der Zwangsvollstreckung):
Gläubiger G hat gegen Schuldner S ein Urteil auf Zahlung von 5 Euro erstritten. G will nun die Yacht des S pfänden lassen, um sich daraus zu befriedigen.
Beispiel 2b:
G hat gegen S ein Urteil auf Zahlung von 25 000 Euro erstritten. Nachdem S nicht zahlen kann, will G in das gesamte Arbeitseinkommen des S vollstrecken. S verdient monatlich 2800 Euro brutto und hat vier Kinder, um die sich seine Frau kümmert.
Beispiel 2c:
Der Gerichtsvollzieher will bei S in der Wohnung einige Gegenstände pfänden. Als er klingelt, öffnet ihm ein Kind, das erklärt, es sei allein zu Hause. Der Gerichtsvollzieher sieht im Flur ein schönes altes Kruzifix hängen. Er betritt kurz die Wohnung und pfändet es.
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Zuerst fällt auf, dass die Pfändung und Verwertung (z.B. §§ 808, 829, 836 ZPO) des Schuldnervermögens durch den Staat den Schutzbereich des Art. 14 I GG berührt. Es handelt sich allerdings nicht um eine Enteignung, sondern um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung. Dabei ist es unerheblich, ob in bewegliche Gegenstände oder in Forderungen vollstreckt wird. Denn der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff umfasst alle vermögenswerten Rechte[5]. Aber man darf sich gerade in Hinblick auf Art. 14 I GG nicht irreführen lassen: Bei der Vollstreckung besteht ein Dreiecksverhältnis (Gläubiger – Schuldner – Staat) und der Gläubiger hat einen materiellen Anspruch gegen den Schuldner. Auch der Gläubiger ist durch Art. 14 I GG geschützt und er hat einen Anspruch darauf, seinen Anspruch im staatlichen Vollstreckungsverfahren durchzusetzen zu können[6]. Der Eingriff in die Grundrechte des Schuldners ist daher in den Worten des BVerfG „im Hinblick auf den legitimen Zweck des Vollstreckungsrechts, nämlich die Durchsetzung der titulierten Forderung des Gläubigers gerechtfertigt“[7]. Er darf allerdings nicht unverhältnismäßig sein. Das berücksichtigt grundsätzlich auch die ZPO, indem in § 803 I 2 ZPO ausdrücklich bestimmt ist, dass die Vollstreckung nicht über das Vollstreckungsziel hinausgehen kann. Diese Norm erfasst aber nicht alle denkbaren Fälle unverhältnismäßiger Pfändungen.
Vgl. zur Zwangsversteigerung einer Immobilie BVerfG NJW 2009, 1259:
„(12) (…) Dies [gemeint ist die Garantiefunktion der Grundrechte] gilt auch für die Durchführung von Zwangsversteigerungen, bei denen der Staat im Interesse des Gläubigers schwerwiegende Eingriffe in das verfassungsrechtlich geschützte Eigentum des Schuldners vornimmt. Ein solcher Eingriff erscheint zwar gerechtfertigt, wenn und soweit er dazu dient, begründete Geldforderungen des Gläubigers zu befriedigen. Zugleich sind aber auch die Belange des Schuldners zu wahren, für den zumindest die Möglichkeit erhalten bleiben muss, gegenüber einer unverhältnismäßigen Verschleuderung seines Grundvermögens um Rechtsschutz nachzusuchen.“
„(17) Das Grundeigentum verlangt bei jeder Anwendung von Maßnahmen der Zwangsverwaltung darüber hinaus insofern Beachtung, als es, wie bei jedem der anderen Grundrechtseingriffe auch, nur den Einsatz des bei gleicher Eignung jeweils mildesten und gemessen an sonst zur Verfügung stehenden Maßnahmen verhältnismäßigen Zwangsmittels gestattet.“
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In den Beispielsfällen werden mehrere Grundrechte des Schuldners berührt. In Beispiel 2a ist das Eigentumsrecht aus Art. 14 I GG betroffen, da die Yacht zum geschützten Vermögen des Schuldners gehört. Gleich auf den ersten Blick drängt sich auf, dass die Pfändung hier unverhältnismäßig sein könnte. Bei einer Forderung von 5 Euro mag man auch am Rechtsschutzbedürfnis für eine Vollstreckung zweifeln. Schließlich könnte das Verbot der Übermaßpfändung eingreifen, da es ganz übertrieben erscheint, eine wertvolle Yacht zu pfänden und zu versteigern, um eine Forderung von 5 Euro zu befriedigen. Aber alle diese Argumente sind wenig schlagkräftig. Denn S hat nun einmal eine Forderung von 5 Euro hartnäckig nicht bezahlt. Er hat sich deswegen sogar verurteilen lassen und selbst nach dem Prozessverlust sitzt er die Sache weiter aus. Man darf nicht übersehen, dass S sich durch die Zahlung der 5 Euro vor jeglicher Vollstreckungsmaßnahme sofort und endgültig schützen könnte. Deswegen muss man sehr genau überlegen, ob G auch mit einer für ihn zumutbaren, sicheren, sonstigen Vollstreckungsmaßnahme an sein Ziel kommen kann. Hat S neben der Yacht keine anderen pfändbaren Gegenstände, so greift das Überpfändungsverbot des § 803 I 2 ZPO nicht ein[8]. Nur wenn andere Gegenstände (z.B. eine Lohnforderung) zugänglich sind, kommt es in Betracht. Damit bleibt nur die allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hierbei kann es auch beachtlich sein, welche Umstände dazu führen, dass der Schuldner eine kleine Forderung nicht bezahlt. Bei einer unverschuldeten Zahlungsunfähigkeit kann eher Zurückhaltung mit harten Pfändungsmaßnahmen geboten sein, als bei bloß fehlender Leistungswilligkeit.
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Anders ist es, wenn G die Yacht leichtfertig für sehr wenig Geld verkauft, weil er ja nur 5 Euro (alternativ kann hier auch eine etwas höhere, und damit realistischere Summe stehen) plus die Kosten für die Zwangsvollstreckung erlösen muss. Dann liegt auf jeden Fall eine Eigentumsverletzung vor, es ist das Verschleuderungsverbot verletzt[9].
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In Beispiel 2b ist – mit dem Lohnanspruch – wiederum das Eigentum iSd. Art. 14 I GG tangiert. Aber eine Pfändung seines Lohnes muss S als Schuldner hinnehmen, da darin zunächst ein rechtmäßiger Eingriff zu sehen ist. Allerdings sind bei der Lohnpfändung darüber hinaus die Menschenwürde (Art. 1 I GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I GG) von Relevanz: Jeder Bürger hat einen Anspruch auf ein ihm verbleibendes Existenzminimum. Daraus resultiert das auch einfach gesetzlich normierte Verbot der Kahlpfändung, das zum Beispiel in den Pfändungsgrenzen bei Arbeitseinkommen zum Ausdruck kommt (§§ 850 ff ZPO). Diese Pfändungsgrenzen sind stets zu beachten. A kann daher nur so viel von dem Arbeitseinkommen des S pfänden,