2. Systematische Auslegung
120
Im Rahmen der systematischen Auslegung wird die Stellung einer Rechtsnorm im Zusammenhang mit anderen Normen der gleichen Vorschrift, des gleichen Abschnitts oder des gesamten Rechtstextes gewürdigt. Die Grundannahme dabei ist, dass der Normgeber gleichen Begriffe eine konsistente Bedeutung geben wollte und dass Normen in ihren Verwendungszusammenhängen sinn- und wirkungsvoll auszulegen sind.
121
Im Unionsrecht ist daher eine Norm in Übereinstimmung mit dem gesamten hierarchisch gleich- oder übergeordneten Recht auszulegen.
Beispiel:
Als Beschränkungsmöglichkeiten der Grundfreiheiten nach den Art. 36, 45 III und Art. 51 AEUV werden gleichlautend die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit genannt. Mittels systematischer Auslegung kann damit die sog. Konvergenz der Grundfreiheiten,[33] d.h. der Gleichlauf ihrer Prüfungen, auch auf Rechtfertigungsebene begründet werden.
122
Eine besondere Ausprägung der systematischen Auslegung ist die sog. primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten EU-Rechts. Die Normenhierarchie des Unionsrechts sieht die Unwirksamkeit von Normen vor, die gegen höherrangiges Recht verstoßen.[34] Deshalb muss zuvorderst versucht werden, die niederrangige Norm im Einklang mit dem höherrangigen Recht auszulegen, da die Norm nur so ihre Wirksamkeit behalten kann. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht: Eine am Sekundärrecht orientierte Auslegung des Primärrechts verkennt, dass das Primärrecht Geltungsgrund allen Sekundärrechts ist und die EU-Mitgliedstaaten als Herren der Verträge das primärrechtliche Programm und damit auch den Handlungsrahmen des Unionsgesetzgebers vorgeben, und nicht umgekehrt.[35]
123
Keine Auslegung im eigentlichen Sinne stellt die mitunter erforderliche wertende Rechtsvergleichung des EuGH zur Ermittlung des Unionsrechts dar. Hierbei handelt es sich um Rechtsfindung, die anhand eines Vergleiches mitgliedstaatlicher Regelungen erfolgt und die konstitutiv für die sodann in Anwendung gebrachte Norm ist. Damit die wertende Rechtsvergleichung die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung nicht überschreitet, bedarf es jedoch einer „Ermächtigung“ in Form eines primärrechtlichen Anknüpfungsmomentes. Solche finden sich teilweise explizit in den EU-Verträgen. Beispielsweise haftet die Union nach Art. 340 II AEUV außervertraglich für Schäden ihrer Organe und Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeiten nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.
124
Daneben können auch (andere) allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts einer Zusammenschau mitgliedstaatlicher Regelungen entnommen werden (arg. e. Art. 6 III EUV).[36]
3. Historische Auslegung
125
Die historische Auslegung leitet aus der Entstehungsgeschichte einer Norm deren Bedeutungsgehalt ab. Dies setzt eine Dokumentation der Entstehungsgeschichte voraus, die nicht immer gegeben ist. Außerdem kommt dem Abschluss vertraglicher Regelungen, insbesondere im zwischenstaatlichen Bereich, häufig ein Kompromisscharakter zu, dem nicht allein sachliche Erwägungen zugrunde liegen. Teilweise wird daher vorgeschlagen, der historischen Auslegung, zumal bei älteren Rechtstexten, nur eine Hilfsfunktion bei fortbestehenden Unklarheiten zukommen zu lassen. Dafür spricht auch die Einordnung als ergänzendes Auslegungsmittel in Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention[37].
Beispiel:
In der Rs. C-583/11 P (Inuit) hatte der EuGH als Rechtsmittelgericht über die Voraussetzungen der dritten Individualklagevariante bei Nichtigkeitsklagen (Art. 263 IV 3. Var. AEUV) zu entscheiden. Mit systematischen und historischen Auslegungsargumenten – lesenswert die Rn. 59 f. des Urteils – kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Verordnungen nicht als „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ zu qualifizieren sind.[38]
126
Schließlich wird die historische Auslegung dem dynamischen Charakter der Europäischen Integration nicht immer gerecht, da sie begriffsnotwendig rückwärtsgewandt ist. Hier wird ein immanentes Spannungsverhältnis mit der insofern wirkmächtigeren teleologischen Auslegung (dazu sogleich) sichtbar.
Beispiel:
Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten waren nach dem Wortlaut der EU-Verträge und dem Gründungsgedanken der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Mitgliedstaaten, deren unterschiedliche nationale Regelungen grenzüberschreitendes Wirtschaften erschwerten. Später erweiterte die Rechtsprechung des EuGH den Kreis der Verpflichteten auf sozial mächtige Berufsverbände und schließlich auf private Akteure, die den Marktzugang wirtschaftlich Tätiger faktisch beschränken können.[39]
4. Teleologische Auslegung
127
Nach Sinn und Zweck der Norm fragt die sog. teleologische Auslegungsmethode (telos, grie. = Ziel). Der Normzweck wird unionsrechtlich unter Rückgriff auf die Präambeln der Verträge, die Werte und Ziele der EU (Art. 2 f. EUV) sowie die jeweiligen sektoriellen Ziele bestimmt. Im Sekundärrecht ergeben sich die konkreten Ziele häufig aus den in den Präambeln des jeweiligen Rechtsakts enthaltenen Erwägungsgründen.
128
Dieser Auslegungsmethode kommt besondere Bedeutung zu, da die EU ausweislich der Präambel des EUV insgesamt integrationsoffen und dynamisch angelegt ist. Die teleologische Auslegung hat daher in der Rechtsprechung des EuGH unter dem Hinweis auf den sog. „effet utile“, d.h. die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts, eine besondere Ausprägung gefunden. Danach ist Unionsrecht so auszulegen, dass es seinen Zweck effektiv verwirklicht.[40] Die Auslegung soll eine weitest gehende Anwendbarkeit, Wirkmächtigkeit und Durchsetzungsstärke des Unionsrechts sichern.
Beispiel:
Entsprechend begründete der EuGH in den verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 (Francovich) die Einführung der Staatshaftung bei Verletzungen des Unionsrechts damit, dass ansonsten „die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts (…) beeinträchtigt“ wäre.[41]
129
Ausprägungen der effet-utile-Auslegung sind außerdem die enge Auslegung von Ausnahmeregelungen und die Wahrung der Funktionsfähigkeit der gesamten EU.[42]
130
Nach Auffassung des BVerfG ist diese auf Wirksamkeit bedachte Kompetenzauslegung und die damit einhergehende politische Fortentwicklung der EU systemimmanent und mit dem Integrationsgedanken des Grundgesetzes zu vereinbaren.[43] Der einschlägige Art. 23 I GG lasse, so das BVerfG, diese Dynamik bis zur Grenze der Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU zu. Darüber hinaus sei die Änderung der Verträge nach Art. 48 EUV und ein deutsches Zustimmungsgesetz erforderlich, damit Unionsrecht in der deutschen Rechtsordnung Anwendung finde.[44]
II. Grenzen der Auslegung