Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Herrmann
Издательство: Bookwire
Серия: Schwerpunktbereich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783811495890
Скачать книгу
ist zunächst hervorzuheben, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen. Mit den Artikeln 173 und 184 EWG-Vertrag auf der einen und Art. 177 EWG-Vertrag auf der anderen Seite ist ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe übertragen ist.“[3]

      27

      Für die Entscheidung der Rechtssache Les Verts bedeutete dies, dass die Kläger mittels Nichtigkeitsklage gegen das Europäische Parlament vorgehen konnten, obwohl der einschlägige Art. 173 EWG-Vertrag das Parlament nicht als zulässigen Klagegegner aufführte. Unter Hinweis auf den Geist und das System des Vertrags sah es der EuGH als zwingend an, sämtliche Rechtsakte der Union einer gerichtlichen Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit zuführen und dabei insbesondere auf eine bestehende Verbandskompetenz überprüfen zu können.

      28

      

      29

      § 2 Die EU als Rechtsgemeinschaft › B. Rechtsstaatlichkeit in der EU

      30

      Auch über die gerichtliche Überprüfbarkeit des Unionshandelns hinaus kommt rechtsstaatlichen Prinzipien in der EU eine hohe Bedeutung zu. Sie werden ohne weitere Konkretisierungen als grundlegender Wert der Union in Art. 2 S. 1 EUV aufgezählt. Zwar ist der Bezugspunkt der Rechtsstaatlichkeit als verfassungsrechtliche Terminologie grundsätzlich der Nationalstaat. Ohne jedoch eine Verfassung im eigentlichen Sinne einer nicht in Frage zu stellenden Grundnorm zu haben, verfügt die Union als supranationale Rechtsgemeinschaft zumindest über von den Mitgliedstaaten übertragene hoheitliche Kompetenzen sowie eigene Organe. Die Unionsorgane üben die übertragene Hoheitsgewalt aus und können den Einzelnen unmittelbar rechtlich verpflichten. So gelten Verordnungen gemäß Art. 288 II AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat und greifen aufgrund ihrer Bindungswirkung regelmäßig in die (allgemeine Handlungs-)Freiheit des Einzelnen ein.

      31

„a) der Grundsatz der Gesetzlichkeit, der im Wesentlichen ein transparentes, demokratischer Kontrolle unterworfenes und pluralistisches Gesetzgebungsverfahren umfasst;
b) die Rechtssicherheit, die unter anderem klare und berechenbare Vorschriften voraussetzt, die nicht im Nachhinein geändert werden können;
c) das Willkürverbot in Bezug auf die Exekutivgewalt. Das Rechtsstaatsprinzip regelt die Ausübung hoheitlicher Befugnisse und stellt sicher, dass sich jede staatliche Handlung auf eine Rechtsgrundlage und entsprechende Gesetze stützt;
d) unabhängige und effektive richterliche Kontrolle, die auch die Wahrung der Grundrechte sicherstellt. (…) Jeder Bürger hat Anspruch auf einen wirksamen Rechtsschutz;
e) ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Recht auf ein faires Verfahren und der Gewaltenteilung. Nur ein von der Exekutive unabhängiges Gericht kann Bürgern ein faires Verfahren garantieren; (…)
f) die Gleichheit vor dem Gesetz [als] (…) ein allgemeiner, in den Artikeln 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerter Grundsatz des EU-Rechts (…).“

      32

      Die vorgenannten Anforderungen binden die EU-Institutionen (Art. 13 EUV) selbst und sind von allen Adressaten des Unionsrechts anhand der systematischen Auslegung des Primärrechts oder der primärrechtskonformen Auslegung des übrigen Unionsrechts zu beachten. Die Auswirkungen auf das EU-Rechtsschutzsystem verortet der EuGH normtechnisch in Art. 19 I EUV in Zusammenschau mit den Art. 258 ff. AEUV.

      33

      

      Daneben strahlen die Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips auch auf die Rechtsordnungen und Rechtsschutzsysteme der EU-Mitgliedstaaten aus. Weil diese unionsrechtlichen Einwirkungen mitunter wesentliche staatsorganisationsrechtliche Entscheidungen der einzelnen Mitgliedstaaten betreffen, können sie politisch umstritten sein. Die betroffenen Mitgliedstaaten verweisen dabei auf ihre Eigenstaatlichkeit bzw. das völkerrechtliche Verbot, in innere Angelegenheiten eines Staates einzugreifen, sowie die (direkt)demokratische Legitimation der mitgliedstaatlichen Regierung.

      Beispiele:

      34