45
– | Die Grundrechtecharta wird den europäischen Verträgen ausdrücklich gleichgestellt (Art. 6 I UA 1 EUV) und damit nicht nur rechtlich verbindlich gemacht, sondern auf der Ebene des Primärrechts verankert (zu den Begriffen und Ebenen des Primär-, Sekundär- und Tertiärrechts siehe unten, Rn. 182–207). |
46
– | In institutioneller Hinsicht wird der Europäische Rat (neben dem Ministerrat, s.u. Rn. 123 ff.), der hauptsächlich aus den Staats- und Regierungschefs besteht, im EUV verankert (Art. 13 I EUV). Das Europäische Parlament wird weiter gestärkt und im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren dem (Minister-)Rat als grundsätzlich gleichberechtigter Mitgesetzgeber zur Seite gestellt (Art. 294 AEUV). |
47
– | Schließlich werden auch die Rechte der einzelnen Mitgliedstaaten gegenüber der Union gestärkt. Von besonderer Bedeutung ist die Einführung der sog. Subsidiaritätsrüge. Diese kann von nationalen Parlamenten erhoben werden, wenn sie in einem Rechtsakt der EU eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips (dazu s.u., Rn. 211 f.) zulasten der nationalen Kompetenzen zu erkennen meinen (Art. 12 EUV, 23 Ia GG). Zugleich wird die Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten in Art. 4 I EUV verdeutlicht, wonach alle nicht ausdrücklich der Union zugewiesenen Aufgaben bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Durch die Betonung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung liegt die Kompetenz-Kompetenz[11] bei den Mitgliedstaaten (Art. 5 EUV); der Union ist es daher nicht gestattet, ohne konkrete Ermächtigung durch die Mitgliedstaaten ihre Aufgabenfelder einseitig auszuweiten. Das Bundesverfassungsgericht hat dies mit der Formel, dass die souveränen Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ sind, zum Ausdruck gebracht.[12] Schließlich wird erstmals ausdrücklich die Möglichkeit eines freiwilligen Austritts aus der Union im EUV verankert (Art. 50). |
e) Zusammenfassende Übersicht
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Abbildung 4:
Entwicklung der EU
2. Grenzen des Integrationsprozesses
Vertiefungshinweis:
Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 43-57b.
a) Brexit
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Von der Austrittsmöglichkeit in Art. 50 EUV hat Großbritannien Gebrauch gemacht. So votierte die britische Bevölkerung am 23.6.2016 mit 51,9 % (bei einer Abstimmungsbeteiligung von 72,2 %) für den Austritt aus der EU („Brexit“), woraufhin die britische Regierung mit Schreiben vom 29.3.2017 das Austrittsverfahren gem. Art. 50 II EUV eingeleitet hat. Nach mehreren Verlängerungen der damit begonnenen zweijährigen Austrittsfrist gem. Art. 50 III EUV endete die britische EU-Mitgliedschaft am 31.1.2020. Die im Austrittsabkommen vereinbarte Übergangsfrist läuft zum 31.12.2020 ab, so dass der Brexit seit 2021 voll wirksam ist.[13]
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Neben populistischer und unsachlicher Kritik an der EU spiegelt sich in dieser Entwicklung ein auch in vielen anderen EU-Staaten (ausweislich entsprechender Wahlergebnisse für EU-skeptische Parteien) festzustellendes Unwohlsein mit dem Integrationsprozess einer immer engeren, immer mehr Politikfelder besetzenden und unübersichtlicher werdenden Union.
b) Rechtsprechung des BVerfG
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Auch in Deutschland zeigt sich dieser Trend. In besonderer Weise gilt dies für die Verfassungsbeschwerden, die sowohl gegen den Maastricht-Vertrag von 1992 als auch gegen den Lissabon-Vertrag von 2007 (bzw. gegen die deutschen Ratifikationsgesetze dazu) erhoben wurden. In beiden Fällen hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerden zugelassen, weil die Souveränitätsübertragungen auf die EU den Entscheidungsspielraum des Bundestags gegenständlich reduzieren und dadurch das grundrechtsgleiche Wahlrecht jedes einzelnen mittelbar betroffen sei.[14] In inhaltlicher Hinsicht wurden die Verfassungsbeschwerden dann zwar zurückgewiesen. Aber das BVerfG hat die Gelegenheiten dazu genutzt, der deutschen Politik klare Grenzen für den weiteren Integrationsprozess ins Stammbuch zu schreiben. So erhebt es in beiden Entscheidungen ausdrücklich den Anspruch, als nationales Gericht eines Mitgliedstaates Rechtsakte der Union für unwirksam zu erklären, wenn sie über den Kreis der der EU übertragenen Kompetenzen hinausreichen („ultra vires“). Außerdem müssen nach der Maastricht-Entscheidung dem Bundestag „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“, damit das vom GG besonders geschützte (deutsche) Demokratieprinzip gewahrt ist.[15] Noch sehr viel deutlicher wird das Gericht schließlich im Lissabon-Urteil. Dort betont es einen Vorbehalt deutscher Staatlichkeit, was in der Nennung von nicht auf die EU übertragbaren Politikfeldern (Strafrecht, innere und äußere Sicherheit mit staatlichem Gewaltmonopol, Steuern und Haushalt, Sozialstaat, grundlegende Kulturfragen) konkret ausformuliert wird. In Verbindung mit der Ewigkeitsgarantie (s.u., Rn. 306 f.) hält es daher eine Weiterentwicklung der EU zu einem Bundesstaat aus grundgesetzlicher Sicht für ausgeschlossen.[16]
3. Rechtscharakter
Vertiefungshinweis:
Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 36-42.
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Was für ein rechtliches Gebilde ist die EU nun eigentlich? Die klassischen Rechtsformen Bundesstaat und Staatenbund passen jedenfalls nicht so richtig. Für einen Bundesstaat sind die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ zu stark. Für einen Staatenbund hingegen ist die Union zu stark, die immerhin auf vielen Politikfeldern durch supranationales – also für die Mitgliedstaaten bindendes – Recht verbindliche Vorgaben machen kann. Zum Staatenbund passt es eben nicht, dass die Mitgliedstaaten schon weitreichende Souveränitätsrechte schrittweise an die Union übertragen haben. Aber gerade diese Supranationalität – d.h. die themenspezifische Überordnung der EU über die Einzelstaaten – ist ein zentrales Merkmal des rechtlichen Charakters der EU.[17] Hinzu kommt die für einen Staatenbund völlig atypische Unionsbürgerschaft, wonach die Angehörigen der Mitgliedstaaten zugleich unmittelbar Bürger der EU sind (s.u., Rn. 55 ff.).
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Das BVerfG hat in seiner Lissabon-Entscheidung daher einen Begriff geprägt, der zwischen diesen beiden klassischen Kategorien liegt. Danach handelt es sich bei der EU um einen „Staatenverbund“, den das Gericht wie folgt näher definiert hat:[18]